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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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war der örtliche Parteiführer von Russka. Er machte seine Sache nicht schlecht. Sein Stellvertreter hieß Smirnov. Die beiden sahen die Liste durch. Fünfundzwanzig Namen wurden angefordert. Sie hatten erst dreiundzwanzig; sie suchten noch einen aus, aber der letzte Mann fehlte ihnen.
    Er mußte natürlich gefunden werden. Fünfundzwanzig Volksfeinde. Das war das Seltsame an der Säuberung: Die obersten Leute wurden selbstverständlich sorgfältig ausgewählt, aber unten gab es einfach eine Quote, die erfüllt werden mußte. »Es muß doch einen geben«, meinte Ivanov. Da fiel ihm Jevgenij Popov ein. Das war ein seltsamer Mensch, der seit seiner Pensionierung zurückgezogen in einem Häuschen am Stadtrand lebte. Er zog Kohl und Rettich in seinem Garten, und er hielt sich in Form, indem er täglich in den nahe gelegenen Ort und wieder zurückging. Ivanov fiel ein, daß er ihn in letzter Zeit nicht gesehen hatte. »Lebt Popov noch?« erkundigte er sich. Sein Stellvertreter bejahte. »Der genügt uns«, meinte er.
    »Aber er ist in den Achtzigern«, widersprach Smirnov. »Er ist einer von den echten alten Bolscheviken. Ein loyaler Mann.« Der Chef überlegte. »Wenn das schon so weit zurückgeht, dann muß er eine Menge Leute kennen«, sagte er nachdenklich.
    »Er kannte Lenin.«
    »Kann sein. Vielleicht kannte er sogar Trotzki.« Es kam Ivanov mit einemmal in den Sinn, daß das Häuschen, in dem Popov wohnte, sehr geeignet wäre für eine Kusine seiner Frau. »Nummer 25: Jevgenij Pavlovitsch Popov«, diktierte er. »Vermutlich Kollaborateur von Trotzki.«
    Für den vierundachtzigjährigen Jevgenij Popov kam seine Verschickung in ein Arbeitslager völlig überraschend.
    1945
    An einem warmen Augustnachmittag ging Ivan an Russka vorbei auf das Dorf zu. Der Himmel war klar. Von den Feldern her kam der angenehme Duft der Heuernte.
    Er kehrte heim. Der große patriotische Krieg war vorüber. Ivan hatte tapfer gekämpft, mehrmals war er dem Tod nahe gewesen. Wie jeden anderen Frontsoldaten hielten auch ihn zwei Gedanken aufrecht: Er kämpfte fürs Vaterland, und Genosse Stalin hatte alles in der Hand. Es war zu dieser Zeit allgemeine Meinung, daß der große Führer praktisch jedwedes bewerkstelligen konnte. Nun also war die Zeit gekommen, heimzukehren und eine neue, glänzende Zukunft aufzubauen.
    Ivan lächelte bei dieser Vorstellung und trat aus dem Wald; da sah er vor sich das weite Feld des Dorfes liegen, wo die Frauen sich langsam mit ihren Sicheln bückten, wie sie es seit eh und je getan hatten.
    In diesem Moment blickte Arina auf und sah den Sohn. Trotz ihres hohen Alters lief sie mit ausgebreiteten Armen übers Feld auf ihn zu.

Epilog
    1992
    Das war also der Tag. Paul Bobrov war früh aufgestanden, und vor sechs Uhr war er schon bereit, aus dem Haus zu gehen. Das »Aurora« war gar nicht übel. Es gab zwar bessere Adressen, sogar ein oder zwei Hotels von internationalem Rang, die den Strom westlicher Geschäftsleute aufnahmen, die nach Moskau kamen, um in diesem riesigen, unsicheren und trotzdem reizvollen Land Profit zu machen. Aber es gab auch schlechtere Hotels – die alten stalinistischen Gebäude, deren Hotelhallen wie Kathedralen wirkten und deren endlose Reihen kahler Zimmer wie aus den fünfziger Jahren übriggeblieben schienen.
    Das »Aurora« gehörte der mittleren Kategorie an und lag in der Nähe des Roten Platzes. Es war eine relativ moderne, neunstöckige Betonstruktur, deren Räumlichkeiten von einem finnischen Unternehmen entworfen und ausgestattet worden waren. Die Betten waren schmal und hart.
    Während Paul auf die Reihe der Aufzüge zuschritt, drang blasses Sonnenlicht durch die Fenster. Er sah auf die Uhr. In fünfzehn Minuten würde er auf dem Weg zum alten Besitz seiner Familie sein.
    Paul Bobrov war dreiunddreißig, der zweite der zehn Enkel von Alexander und Nadeschda. Er war mittelgroß, und das leicht türkische Aussehen seiner Vorfahren war bei ihm etwas weicher ausgefallen.
    Wie würde Alexander sich freuen, wüßte er von seinem, Pauls, Besuch! Seine Großmutter, mit ihren vierundneunzig Jahren immer noch schön, wenn auch recht gebrechlich, hatte ihm eine genaue Beschreibung des Ortes gegeben und ihm versprochen, sie werde auf keinen Fall sterben, bevor er zurückkäme und ihr berichte. Die kleine russische Gemeinde, der Paul Bobrov angehörte, lebte in einem Vorort nördlich von New York City. Es gab mehrere davon in der Gegend; ähnliche waren auch in London, Paris und anderen
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