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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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Aber wollte er nicht doch mehr? Einen Monat zuvor hatte diese beunruhigende kurze Unterhaltung stattgefunden. Es begann mit der sehr beiläufigen Frage eines Kollegen im Büro: »Würdest du wieder nach Rußland zurückkehren?«
    Paul hatte daraufhin über seinen bevorstehenden Besuch gesprochen, aber der Mann hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, Paul, ich meine, ob du wieder dort leben möchtest.« Lächelnd dachte er daran. Hier leben? Sein angenehmes amerikanisches Dasein und seinen gutbezahlten Job aufgeben? Wie immer seine Gefühle für Rußland sein mochten – er war schließlich in dritter Generation Amerikaner. »Wenn sich die Dinge ändern, sich alles wirklich öffnet, dann wäre es wahrscheinlich gut, sich irgendwie zu integrieren«, hörte er sich murmeln. Aber war das die ganze Wahrheit? Oder gab es andere, tiefere Emotionen, die er nicht zugeben wollte?
    Welch ein Glücksfall, daß er Sergej Romanov begegnet war! Sie hatten sich auf einer Handelsmesse in New York im letzten Jahr kennengelernt. Der Russe suchte nach Möglichkeiten, in Moskau Software-Programme für westliche Gesellschaften in Lizenz zu entwickeln. Er hatte gute Mitarbeiter, aber wenig Ahnung vom Geschäft, und Paul, der Arbeitsplatzcomputer vertrieb, freute sich, ihm von Nutzen sein zu können. Schon am nächsten Tag hatte Bobrov erwähnt, er hoffe, eines Tages zurückzukommen und den alten Familienbesitz zu besuchen. Die einzige Schwierigkeit bestehe darin, daß er nicht wisse, wie man hinkomme, da er nicht an einer Touristenroute lag. »Ein kleiner Ort namens Russka«, fügte er hinzu.
    »Ach, Paul Michailovitsch«, hatte Romanov ausgerufen, »genau von dort ist mein Großvater gekommen. Ich bin selbst nie dort gewesen. Kommen Sie nach Moskau«, sagte er zuvorkommend, »wir fahren gemeinsam hin.«
    Und nun war er da, und Romanov würde ihn gleich abholen. Sie hatten vereinbart, sich um sechs Uhr fünfzehn vor dem Hotel zu treffen. Es war noch zu früh für ein Frühstück im düsteren Restaurant, aber im fünften Stock gab es eine kleine Bar, die laut Plan um sechs Uhr öffnete. Dorthin lenkte Paul jetzt seine Schritte. Paul war um fünf Minuten nach sechs an der Eingangstür. Er sah, wie drinnen ein hübsches blondes, aber gelangweilt dreinblickendes, etwa zwanzigjähriges Mädchen die verschiedenen Dinge an ihren Platz stellte. Hinter ihr an der Theke prüfte eine große verdrossene Frau in den Fünfzigern das Brot und die Platten mit Käse- und Salamischeiben. Paul wollte die Glastür öffnen, aber sie war verschlossen.
    Das Mädchen blickte zu dem frühen Gast hin und sagte etwas zu der älteren Frau. Die fühlte sich nicht einmal bemüßigt, ihm einen Blick zu schenken. Paul sah auf seine Uhr, klopfte an die Scheibe und deutete auf die angegebenen Öffnungszeiten. Die Frau wandte sich um und schrie: »Zakryt! Geschlossen!« Und das Mädchen lächelte. Mir ist langweilig. Sie leierte das täglich, stündlich wie eine Litanei herunter. Ludmilla Suvorin war intelligent; ihr Vater Peter war es ebenfalls gewesen, bis er zu trinken begann; und Peters Vater war der Komponist Suvorin gewesen. Bis vor einigen Jahren durfte man seinen Namen nicht erwähnen, denn er war in ein Arbeitslager deportiert worden. Sein Werk, die letzte Suite eingeschlossen, wurde inzwischen wieder aufgeführt, doch war diese Tatsache für sie eher nachteilig. Peter starb, als Ludmilla fünf Jahre alt war. Ihre Mutter hatte danach einen Eisenbahner geheiratet, und sie wohnten in einer öden Vierzimmerwohnung, die sie mit einer anderen Familie teilten, in einem großen bröckelnden Betonblock in einem tristen Außenbezirk der Stadt. Ludmilla war faul. Sie hätte etwas Besseres tun können als dies hier, aber das meiste war ihr zu lästig. Sie tanzte gern, sie hatte eine gute Figur, schlank und kräftig. Manchmal hatte sie daran gedacht, ihren Körper zu verkaufen wie die langbeinigen Mädchen in der Hotelhalle. Sie hatte es schließlich nicht getan. Und so war sie hier, mit ihrer Kollegin Varja.
    Ludmilla beobachtete den Amerikaner leicht amüsiert. Varja hatte nämlich ihre eigenen Ansichten darüber, wie man eine Bar führte. In zwei Punkten war sie absolut unerbittlich, und der erste Punkt betraf die Öffnungszeiten.
    Daß die Bar um sechs Uhr öffnete, bedeutete für Varja, daß sie um diese Zeit erschien. »Man bezahlt uns doch nicht dafür, daß wir zu früh kommen, oder?« meinte sie. »Wir öffnen um sechs, und dann machen wir erst einmal alles fertig.«
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