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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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Ehemann, die eine slawische Sprache sprachen, in diesem Wald nach Osten und Norden hin kleine Kolonien errichtet. Einige davon, wie auch die Sippe ihres Mannes, bebauten Felder und trieben Viehzucht. Als diese Slawen und die Ur-Finnen einander in diesen weitläufigen Gebieten begegneten, kam es kaum zu Konflikten. Es gab genügend Land und Jagdbeute für Zehntausende von Menschen. Es wurden Ehen zwischen den Stämmen geschlossen, wie die Ehe von Lebeds Eltern. Die Siedler des Weilers jedoch verachteten das Waldvolk.
    Lebeds Mann machte sich einen Spaß daraus, sie nicht beim Namen des kleinen Stammes ihrer Mutter zu rufen, sondern mit dem Namen des großen Stammes der Mordvinen, die hoch im Norden lebten. Das klang noch fremder, obwohl sie väterlicherseits rein slawisch war. Es war wirklich nicht bös gemeint, aber die übrige Sippe, so dachte Lebed traurig, sah sie verächtlich an.
    Vor allem ihre Schwiegermutter. Seit nahezu dreizehn Jahren wachte ihre mächtige Gestalt über Lebeds Leben. Es gab Tage, an denen das Löwengesicht dieser Frau mit den schweren Wangen heiter, ja freundlich dreinblickte. Doch ein kleiner Fehler von Lebeds Seite – eine Spindel fiel, Sauerrahm wurde verschüttet – rief einen Zornesausbruch hervor. Die anderen Frauen im Haus schwiegen dazu. Sie waren froh, daß sie gut davongekommen waren und daß sie die Wut an der Fremden ausließ. Danach wurde Lebed wieder an die Arbeit geschickt, und die Schwiegermutter wandte sich achselzuckend den anderen zu.
    Das alles war zu ertragen, aber ihr eigener Bruder machte es ihr schwer. Ihre Eltern waren das Jahr zuvor gestorben, nur sie und ihr jüngerer Bruder Mal waren übriggeblieben. Und über ihn hatte sie am vergangenen Tag weinen müssen.
    Mal hatte nichts Böses im Sinn, aber immer gab's Schwierigkeiten mit dem Dorfältesten. Für Mal, auf dessen breitem, ein wenig blödem Gesicht ständig ein Lächeln lag, gab es anscheinend nur zwei Dinge im Leben – die Jagd, und seinem kleinen Neffen Freude zu machen. Er hatte überhaupt keine Lust zur Feldarbeit. Tagelang verschwand er ohne Erlaubnis im Wald, dann plötzlich sah seine Schwester ihn mit einem Dutzend Fellen am Gürtel wiederauftauchen. Der Dorfälteste verwünschte ihn, und Lebeds Schwiegermutter warf ihm wieder ärgerliche Blicke zu.
    Nun hatte er dem Kind ein besonders verrücktes Versprechen gegeben: »Wenn ich das nächstemal auf die Jagd gehe, Kleiner Kiy, bringe ich dir einen jungen Bären mit. Du kannst ihn vor der Hütte anbinden.«
    »Aber Mal«, warnte die Schwester ihn, »der Älteste hat gesagt, du mußt das Dorf verlassen, wenn du wieder ungehorsam bist.« Als Strafe für Mals häufige Abwesenheit hatte der Älteste für dieses Jahr ein Jagdverbot über ihn verhängt. Doch Mal scherte sich nicht darum. Nach wie vor ging er mit den zwei alten Männern, mit denen er in einer kleinen Hütte wohnte, jagen und fischen. »Warum nimmst du dir nicht endlich eine Frau und hörst mit diesem Unsinn auf?« schimpfte Lebed.
    »Wie du befiehlst, Schwester Lebed.« Grinsend neigte er den Kopf. Er nannte sie so, um sie zu ärgern, denn fast niemand im Dorf wurde bei seinem richtigen Namen genannt. Kiy wurde üblicherweise Kleiner Kiy gerufen. Auch Mal hatte einen Namen, den die Leute benutzten, wenn sie böse auf ihn waren: Faulpelz. Lebed war gestern zweimal während der Feldarbeit zu Mal gegangen, das zweitemal in Tränen, um ihn von seinem albernen Plan abzubringen. Denn obwohl er ihr nichts als Schwierigkeiten machte, liebte sie ihn. Es würde einsam werden, wenn man ihn wegschickte. Doch er grinste nur, während er die Heuballen aufeinanderstapelte.
    Aus diesem Grund hatte sie abends lange nicht einschlafen können. Nun aber hatte die Nacht alle Gedanken weggewischt. Leise bewegte der Windhauch vom Fenster ihr dichtes Haar und das weiche Haar des Kindes.
    Wo lag dieses Dorf an Fluß und Wald? Es lag am Rand der südrussischen Steppe, einige Dutzend Meilen östlich des großen Dnjepr und an die dreihundert Meilen oberhalb der breiten Flußmündung am Nordwestufer des Schwarzen Meeres. So seltsam es auch klingen mag: Hätte ein fremder Reisender damals nach dem Weg dorthin gefragt, hätte ihm kaum jemand Auskunft geben können. Rußland als Staat existierte noch nicht. Die alten Kulturen des Ostens – China, Indien, Persien – lagen weit entfernt. Ihnen galt die leere Ebene als Ödland. Im Westen dehnte sich das machtvolle Imperium Romanum rund um das Mittelmeer bis hinauf nach
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