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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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verjagt hatte. Bei dem bloßen Gedanken daran errötete er. Er hatte vorgehabt, am Tag beim Heueinholen zu helfen, durch großen Fleiß die Aufmerksamkeit des Ältesten zu erregen und peinlichen Gesprächen mit Kiy aus dem Weg zu gehen. Es kam dem kleinen Jungen nicht in den Sinn, daß sein Onkel so rasch an der Hütte vorbeilief, damit er ihm nicht gegenübertreten mußte. So rannte er auf ihn zu und starrte ihn erwartungsvoll an. Mal äugte schuldbewußt nach allen Seiten. Glücklicherweise war niemand in der Nähe.
    »Hast du ihn mitgebracht? Wo ist er?« rief Kiy. Mal zögerte. »Er ist noch im Wald.«
    »Wann holst du ihn denn? Heute?« Die Augen des Kleinen glänzten vor Erregung.
    »Bald. Wenn es Winter wird.«
    Der Junge blickte enttäuscht drein. Winter? Der war ja noch ewig weit weg. »Warum denn?«
    Mal überlegte einen Augenblick. »Ich hatte ihn schon. Er lief neben mir her mit einem Strick um den Hals, Kleiner Kiy. Aber dann hat ihn der Wind fortgenommen. Ich konnte nichts dagegen machen.«
    »Der Wind?« Kiys Gesicht wurde lang. Er wußte, daß der Wind der älteste aller Götter war. Mal hatte ihm das oft erzählt. »Der Sonnengott ist groß, Kiy, aber der Wind ist älter und größer. Der Wind bläst bei Tag und auch bei Nacht, wenn die Sonne fortgegangen ist. Die Schneejungfern bringen ihn«, fuhr der Onkel fort, »du wirst es sehen.«
    Warum mußte er lügen? Er sah zu seinem vertrauensvollen kleinen Neffen hinunter und wußte es sehr genau. Es war, weil alle ihn verachteten und, schlimmer noch, weil er sich vor sich selbst schämte. Er konnte dem Kind nicht die Wahrheit sagen. Ich bin dumm und unnütz, dachte er. Ja, und faul auch. Er hatte an diesem Tag wirklich auf dem Feld arbeiten wollen, aber jetzt mußte er wohl wieder in den Wald fliehen, um der häßlichen Wahrheit über seinen Charakter zu entkommen.
    »Ich weiß aber, wo der Wind ihn versteckt hält«, sagte er. »Du weißt es?« Kiy strahlte wieder. »Sage es mir.«
    »Tief im Wald, im Land Weißnichtwo.«
    »Kann man dorthin kommen?«
    »Nur wenn man den Weg kennt.«
    »Und du kennst ihn?« Natürlich wußte ein guter Jäger wie sein Onkel sogar den Weg ins Zauberland. »Wo ist der Weg?« fragte Kiy. Mal grinste. »Weit nach Osten. Aber ich kann in einem Tag hinkommen«, brüstete er sich. »Wirst du den Bären holen?« bat der Kleine. »Vielleicht. Irgendwann.« Mal sah ernst drein. »Aber das ist unser Geheimnis. Nicht ein Wort zu irgend jemandem.« Der Junge nickte.
    Mal ging weiter und war froh, aus dieser mißlichen Lage herausgekommen zu sein. Vielleicht konnte er in ein paar Tagen eine neue Falle für das Bärenjunge basteln. Er wollte den kleinen Jungen, der ihm vertraute, nicht enttäuschen. Jetzt fühlte er sich besser. Er würde nun doch auf dem Feld arbeiten.
    Kiy sah ihm nach, wie er traurig davonging. Er hatte gehört, wie die Frauen über seinen Onkel lachten und wie die Männer auf ihn fluchten. Er wußte, daß sie ihn Faulpelz nannten. Er dachte nach. Konnte man Mal denn wirklich nicht trauen? Kiy sah hinauf in den leeren Morgenhimmel und überlegte, was zu tun sei. Die Frauen bildeten die Form eines breiten V auf dem goldenen Gerstenfeld. In der Mitte ging die große Gestalt von Lebeds Schwiegermutter. Die Frau des Ältesten war im vergangenen Winter gestorben, und nun war sie die älteste Frau im Dorf.
    Es war ein heißer Sommertag. Nun, gegen Mittag, hatten sie schon einige Stunden gearbeitet. Jede Frau hatte eine Sichel in der Hand. Langsam machten sie ihren Weg durch das Feld und sangen dabei. Die älteste Frau stimmte eine Weise an, und die übrigen fielen ein.
    Lebed war schweißüberströmt, aber sie fühlte sich wohl in dem gleichmäßigen Arbeitsrhythmus. Obwohl sie manchmal geringschätzig behandelt wurde, war doch jede dieser Frauen ihr irgendwie verwandt – eine Ehefrau, die Schwester der Ehefrau, Schwestern ihres Mannes und deren Töchter, Tanten, Nichten dieser Töchter. Das war ihr Volk. Mochten sie sie auch Mordvinin nennen, sie war doch ein Teil von ihnen. Sie besaßen Land und Dorf gemeinsam, nur die Dinge des Hausstandes gehörten dem Mann. Und die Stimme des Ältesten war das Gesetz.
    Lebed blickte zufrieden über das Feld. Ein paar hundert Meter entfernt luden ihr Mann und die anderen Männer Heu auf Karren. Auch ihr Bruder war dabei. Neben dem Feld saßen drei der ältesten Frauen. Lebed sah sich nach Kiy um. Gerade noch hatte er bei den Frauen gesessen, aber vielleicht war er zu den Männern
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