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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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gegangen. Die große Göttin der Slawen hatte in dieser Gegend ihre schönste Gestalt angenommen – der Weiler lag dort, wo es den besten Boden der großen Ebene gab: die schwarze Erde. Oben im Norden, unter der Tundra, war der Boden ein mooriger gloj, ungeeignet für Ackerbau. Unter den Wäldern lagen die sandigen Schichten – podzol –, grau unter den nördlichen Laubwäldern, braun in den belaubten Wäldern weiter südlich. Auch auf diesen Böden war der Ertrag verhältnismäßig mager. Erst im Steppengürtel gab es völlig anders gearteten Boden: die schwarze Erde, tschernozem, glänzend, weich, dick und fruchtbar. Und dieser Boden erstreckte sich Hunderte von Meilen von den Westufern des Schwarzen Meeres nach Osten über die Ebene, über die Wolga und weit nach Sibirien hinein. Die Slawen, die am Rand des großen Waldes lebten, brauchten ein Feld nur abzuräumen und konnten dann ständig ernten. Erst nach vielen Jahren war der Boden erschöpft. Dann ließen sie Gras darauf wachsen und räumten das nächste Feld ab. Als die Frauen einmal im Singen innehielten, sah Lebed ihren Bruder auf sich zuschlendern.
    »Da kommt der Faulpelz und sucht nach neuer Arbeit«, rief eine der Frauen boshaft. Sogar Lebeds Schwiegermutter lachte. Erstaunt, daß ihr Sohn nicht bei Mal war, fragte Lebed: »Wo ist der Kleine Kiy?«
    »Weiß nicht. Hab' ihn den ganzen Morgen nicht gesehen.« Lebed zog die Stirn in Falten. Wo mochte der Junge nur sein? Sie wandte sich nach ihrer Schwiegermutter um: »Darf ich den Kleinen Kiy suchen gehen? Er ist weg.«
    Die große Frau sah Lebed und ihren nichtsnutzigen Bruder unbewegt an. Dann schüttelte sie den Kopf. Es gab noch Arbeit. »Geh und frag die alten Frauen, wohin er gegangen ist«, sagte sie leise zu Mal.
    »Na schön.« Mal begab sich gemächlich an den Feldrand. Es machte Mal Spaß, die verschiedenen Leute im Dorf zu beobachten. Und es war ihm längst aufgefallen, daß die körperliche Entwicklung der Frauen nach einem gewissen Schema ablief. Zuerst waren sie blaßhäutig, schlank und anmutig wie Rehe – das war die Zeit des Erblühens. Dann nahmen sie zu – zuerst um die Hüften wie seine Schwester, später um die Mitte und an den Beinen. Unaufhaltsam wurden sie immer stämmiger. Zuletzt wurden sie immer kleiner, bis sie im hohen Alter gänzlich verschrumpelten. Und so brachte die alte Frau, die babuschka, mit ihrem sonnenverbrannten, runzeligen Gesicht und ihren leuchtendblauen Augen ihre letzten Jahre hin, bis sie ins Grab sank. Seiner Schwester Lebed würde es genauso ergehen. Immer wenn Mal eine babuschka sah, wurde ihm warm ums Herz.
    Drei babuschkas saßen am Feldrand beieinander. Mal lächelte sie freundlich an und sprach mit ihnen. Dann kam er grinsend zurück. »Sie sind alt«, erklärte er, »und ein bißchen durcheinander. Eine glaubt, Kiy ist mit den anderen Kindern ins Dorf gegangen; die zweite meint, er ging zum Fluß, und die dritte denkt, er lief in den Wald.«
    Lebed seufzte. Warum sollte Kiy in den Wald gegangen sein? Sie glaubte auch nicht, daß er am Fluß war. Die anderen Kinder spielten in der Hütte unter der Aufsicht eines der Mädchen. Wahrscheinlich war Kiy auch dort. »Geh und sieh nach, ob er im Dorf ist«, sagte sie. Mal war froh, daß er sich entfernen konnte. Als er zurückkam, zeigte er das übliche Lächeln, doch Lebed erkannte seine Unsicherheit. »War Kiy nicht dort?«
    »Nein. Sie haben ihn nicht gesehen.«
    Seltsam – sie hatte ihn bei den anderen vermutet. Nun fühlte sie Besorgnis. Wieder bat sie ihre Schwiegermutter: »Der Kleine Kiy ist nicht daheim. Ich möchte ihn suchen gehen.« Doch die ältere Frau sah sie mit leichter Verachtung an. »Kinder verschwinden oft. Er wird schon wiederkommen. Soll dein Bruder nach ihm sehen. Er hat ohnehin nichts zu tun.« Lebed senkte traurig den Kopf. »Geh an den Fluß und sieh, ob Kiy dort ist«, sagte sie zu ihrem Bruder. Diesmal bewegte er sich rascher. Nach wenigen Minuten kam er zurück. Er sah besorgt drein. »Er ist nicht zum Fluß gegangen.«
    »Woher weißt du das?«
    Mal hatte einen seiner alten Freunde getroffen, der den ganzen Morgen am Flußufer gewesen war. Er hätte den kleinen Jungen sehen müssen. Lebed spürte jähe Furcht. »Ich glaube, Kiy ist in den Wald gegangen«, meinte Mal. Der Wald! Kiy war nie dorthin gegangen, außer mit ihr. Lebed musterte ihren Bruder aus zusammengekniffenen Augen. »Warum sollte er in den Wald gegangen sein?«
    »Ich weiß nicht«, war die verlegene Antwort.
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