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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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Britannien. Doch Rom drang nie über die Waldgürtel der großen Eurasischen Ebene vor.
    Was wußte Rom von dem Wald? Nur daß östlich des Rheins kriegerische germanische Stämme hausten und daß im Norden, an der Ostsee, primitive Völker lebten: Balten, Letten, Esten, Litauer, von denen man nichts wußte. Über die slawischen Länder wußten sie wenig, von den Finno-Ugriern in den Wäldern jenseits der Wolga so gut wie nichts. Von den türkischen und mongolischen Stämmen im riesigen sibirischen Hinterland drang damals keine Kunde über den Wald nach Westen, kaum ein Laut über die Steppe. Und was wußte Rom von der Steppe? Zwar war Rom am östlichen Teil bis nach Armenien unterhalb des Kaukasischen Berglandes vorgedrungen, doch das weite Flachland dahinter blieb terra incognita, unbekanntes Land voller barbarischer Stämme, gefährlicher Steppe und unpassierbarer Flüsse.
    Auch die Dorfbewohner selbst hätten nicht erklären können, wo genau sie lebten. Sie wußten lediglich, daß ihr Flüßchen in einen anderen kleinen Fluß mündete, daß dieser Fluß sich dem mächtigen Dnjepr verband und daß irgendwo hinter der südlichen Steppe der Dnjepr ins Meer floß.
    Also können wir nur sagen, daß der Weiler oberhalb des Schwarzen Meeres irgendwo östlich des Dnjepr und westlich des Don lag, etwas östlich des Waldes, etwas westlich der Steppe, an einem von tausend namenlosen Flüssen.
    Der kleine Junge lächelte, als er aufwachte. Ein Lüftchen wehte durchs Fenster. Das Sonnenlicht malte ein großes helles Rechteck auf den Boden aus gestampfter Erde.
    »Bist du wach, mein Körnchen?« Das breite Gesicht der Mutter neigte sich über das Kindergesicht. Hinter ihr bewegten sich die Menschen im Raum.
    Es war ein großer Raum. Die Lehmwände wurden durch Holzrahmen gestützt. Die Hütte war zweigeteilt: Hinter dem Ofen betrat man die Hütte über einen Gang, und der Raum auf der anderen Seite, etwas größer als der Hauptraum, diente als Arbeits- und Vorratsraum. Hier gab es einen Webstuhl, mehrere faßartige Behälter, Hacken, Sicheln, und an der Wand hing eine Axt, die dem Hausherrn gehörte. Das von Eichenpfosten gestützte Gebäude war zu einem Teil in den Boden eingelassen, so daß man vom Gang zur Außentür hinaufsteigen mußte.
    Die Mutter wusch das Gesicht des Jungen mit Wasser aus einem braunen irdenen Gefäß. Er sah an ihr vorbei auf den leuchtenden Sonnenflecken auf dem Boden. Seine Gedanken waren weit weg. Er wollte schnell hinauslaufen. Ob der versprochene Bär schon da war?
    Die Mutter prüfte rasch seine Zähne. Er hatte zwei Milchzähne verloren, aber die neuen Zähne wuchsen bereits nach. Ein weiterer wackelte, aber alle anderen waren noch fest. Endlich ließ Lebed ihren Sohn los, und er rannte hinaus.
    Der Hütte gegenüber lag ein Stück Gemüseland, von dem sie am vergangenen Tag eine große Rübe geholt hatte. Rechts davon lud eben ein Mann Ackergeräte auf einen alten Holzwagen mit stabilen Rädern, von denen jedes aus einem einzigen Holzblock geschnitzt worden war. Zur Linken stand in einiger Entfernung am Fluß ein kleines Badehaus. Es war erst drei Jahre zuvor gebaut worden – nicht für die Dorfbewohner, die ein größeres hatten, sondern für deren Ahnen. Schließlich, das wußte Kiy, wollten die Toten ebenso wie die Lebenden ihr Dampfbad nehmen, auch wenn man sie nicht sehen konnte. Und wie er immer wieder in seinem jungen Leben zu hören bekam, wurden die Ahnen sehr ärgerlich, wenn man sie von etwas ausschloß. Er wußte, daß die Toten da waren und ihn beobachteten, wie er auch wußte, daß im Boden unter einer Ecke der Scheune beim Haus des Dorfältesten die winzige schrumpelige Gestalt des domovoj hauste; es war der Großvater seines eigenen Vaters, und sein Geist wachte über allem, was in der Gemeinde geschah.
    Kiy trat hinaus. Er sah nach rechts und links. Nichts. Kein Anzeichen des kleinen Bären. Der Junge machte ein langes Gesicht. Er konnte es nicht fassen – hatte er denn nicht gesehen, wie am Abend sein Onkel und der alte Mann vorbeigeschlichen waren? Er fühlte heiße Tränen in sich aufsteigen, doch da er Mal Stillschweigen hatte schwören müssen, unterdrückte er das Weinen. Da sah er Mal.
    Der hatte keine gute Nacht hinter sich. Er hatte mit einem der alten Jäger eine Falle für das Bärenjunge im Wald aufgestellt. Fast hätten sie Erfolg gehabt, doch im letzten Augenblick verlor er die Nerven und machte eine falsche Bewegung, worauf ihn die wütende Bärenmutter
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