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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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Offensichtlich log Mal, aber Lebed wußte, daß jetzt nicht der Moment war, ihn ins Verhör zu nehmen. »Welchen Weg könnte er denn genommen haben?«
    Mal dachte an die albernen Worte, die er am Morgen zu dem Kleinen gesagt hatte: Weit im Osten. Aber ich kann in einem Tag hinkommen. »Wahrscheinlich ist er nach Osten gegangen.« Er errötete. »Ich weiß nicht, wohin.«
    Lebed sah ihren Bruder verächtlich an. »Hier, nimm!« Sie drückte ihm eine Sichel in die Hand. »An die Arbeit!«
    »Aber das ist Frauensache«, widersprach er. »Mach schon, Dummkopf!« schrie sie und lief zur Schwiegermutter. »Laß mich gehen und den Kleinen Kiy suchen, mein Bruder hat ihn in den Wald geschickt.«
    Die Schwiegermutter blickte hinüber zur Wiese. Die Männer dort hatten die Arbeit beendet. Einige, darunter Lebeds Mann und der Dorfälteste, kamen auf sie zu. »Zeit zum Ausruhen«, rief die alte Frau, dann sagte sie zu Lebed: »Du kannst gehen.« Lebed erzählte ihrem Mann und dem Ältesten rasch, was geschehen war. Der Älteste war ein großer graubärtiger Mann mit kleinen ruhelosen Augen. Er zeigte wenig Interesse, doch das milde Gesicht des Ehemannes wurde von einer leichten Besorgnis überschattet. Er blickte den Ältesten an. »Soll ich mitgehen?«
    »Der Junge kommt schon wieder. Er ist sicher nicht weit gegangen. Sie soll ihn allein suchen.« Seine Stimme klang gelangweilt. Lebed sah die Erleichterung, die sich auf dem Gesicht ihres Mannes ausbreitete. Sie verstand. Er hatte sich auch um seine übrigen Ehefrauen und Kinder zu kümmern. »Ich gehe«, sagte sie leise.
    Wie angenehm es im Wald war, wie friedlich. Am leuchtendblauen Himmel zogen von Zeit zu Zeit dicke weiße Wolken vorüber, die in der späten Morgensonne glänzten. Sie kamen aus dem Osten über den grünen Wald von den dürren, endlosen Steppen. Am Waldrand, wo der kleine Junge ging, wisperte das hohe Gras im leichten Wind. Ein halbes Dutzend Kühe graste im Schatten. Es war schon einige Zeit vergangen, seit Kiy sich von den alten Frauen fortgeschlichen hatte. Nun ging er erwartungsvoll den ihm vertrauten Weg in den Wald. Er hatte kein bißchen Angst vor Gefahren. Den ganzen Morgen hatte er über das Bärenjunge nachgedacht. Mal wußte, wo es sich aufhielt: Im Zauberreich weit im Osten. Und hatte er nicht gesagt, er könne in einem Tag dorthin kommen? Kiy fühlte, daß sein Onkel nicht dorthin gehen würde. Und je länger er darüber nachdachte, um so klarer wurde ihm, was er zu tun hatte.
    Er kannte ja den Weg. Nach Osten – das bedeutete die Strecke, auf der seine Mutter und die Frauen Pilze sammelten. Zum Ende des Sommers kamen sie auch immer her, um Beeren zu pflücken. Aus dem Osten kamen die weißen Wolken. Kiy wußte nicht, wie weit es war, doch wenn sein Onkel in einem Tag dorthin gelangen konnte, dann konnte er das auch.
    Und so war der pummelige kleine Kerl, mit einem weißen Kittel, Stoffgürtel und Bastschuhen bekleidet, unterwegs in die Kiefernwälder. Bis zu den kleinen Schneisen, wo die Frauen Pilze sammelten, war es etwa eine Viertelmeile. Er lachte vor Freude, als er die Stelle erreichte. Er war zwar nie weiter als bis hierher gekommen, aber voller Vertrauen stapfte er vorwärts. Der schmale Pfad führte einen Abhang hinunter, dann wieder hinauf. Kiy fiel auf, daß hier weniger Kiefern zwischen den Eichen und Birken standen, dafür gab es mehr Eschen. Aus den Zweigen wurde er von Eichhörnchen aufmerksam beobachtet. Nach einer Weile lichtete sich das Unterholz. Einige hundert Meter weiter führte der grasbedeckte Pfad nach rechts, dann nach links. Eine Kieferngruppe tauchte auf.
    Der Kleine Kiy war begeistert von seinem abenteuerlichen Vorstoß in ein unbekanntes Land und dachte nicht an den Rückweg. Die Bäume standen dicht um ihn. Ein leicht mooriger Geruch wehte ihn an, und plötzlich sah er neben sich einen kleinen dunklen Weiher, ungefähr zehn Meter breit und dreißig Meter lang. Während der Junge ihn betrachtete, kräuselte ein leichter Windstoß die Oberfläche. Wasser schwappte gegen die dunkle Erde und die Farnbüschel am Ufer. Kiy wußte, was das bedeutete: In dem stillen Teich wohnten Dämonen.
    Das sagten jedenfalls die Leute in seinem Weiler. Sicher gab es hier auch Wasserjungfern, rusalki, und wenn man sich falsch verhielt, kamen sie heraus und kitzelten einen zu Tode. Der kleine Junge ging leise, den Blick unverwandt aufs Wasser gerichtet, um den gefährlichen Weiher herum und war froh, als der Pfad in eine andere Richtung
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