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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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getan hatte? Er sah, daß es eine Giftnatter war – es gab verschiedene Arten in der Gegend –, und obwohl sie tot war, schauderte es ihn.
    Er bemerkte aber noch etwas, das ihn beruhigte und ihn sogar zum Lächeln brachte: Die Schlange lag im Schatten eines Haselbusches. »Jetzt also finde ich meinen Bären«, sagte er laut vor sich hin, denn die tote Schlange konnte ihm eines der größten Geheimnisse der Welt verraten: das Geheimnis der Zaubersprache. Alle Pflanzen sprachen sie, sogar Steine und Flüsse, auch Tiere, manchmal. Menschen konnten die Sprache eigentlich nicht hören. Aber es gab doch Gelegenheiten, sie übermittelt zu bekommen. Seine Großmutter hatte ihm das erzählt. »Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Zaubersprache verstehen zu lernen, Kleiner Kiy. Wenn du eine Schlange aus dem Feuer errettest oder einen Fisch davor bewahrst, gefangen zu werden, können sie dir die Kenntnisse vermitteln. Du kannst auch zur Sonnenwende um Mitternacht im Wald Farnsamen suchen. Wenn du beim Pflügen einen Frosch findest, mußt du ihn in den Mund stecken. Als letztes: Wenn du eine tote Schlange unter einem Haselbusch entdeckst, mußt du sie braten und ihr Herz essen.«
    Wenn ich mit den Bäumen und Tieren sprechen könnte, würden sie mir sicher sagen, wo das Bärenkind ist, dachte er. Aber wie sollte er die Schlange braten? Er hatte ja kein Feuer. Vielleicht sollte er sie mit zurück ins Dorf nehmen. Aber nein, er konnte sie nicht allein nach Hause schleppen. Da kam ihm ein ebenso einfacher wie tröstlicher Gedanke: Er würde Onkel Mal holen. Der würde bestimmt kommen und die Schlange für ihn braten. Erleichtert kletterte Kiy vom Felsen herunter und machte sich auf den Heimweg. Die Umgebung kam ihm nach seinem wundersamen Fund weniger verzaubert und viel vertrauter vor. Doch nach wenigen Minuten merkte er, daß er sich verirrt hatte. Die Bäume ragten nun höher auf und standen dichter zusammen. Es gab vereinzelt Findlinge und Büsche, ganz anders als in den Wäldern, die er bisher gesehen hatte. Wieder sah er nach den Wolken, nach denen er sich zuvor gerichtet hatte. Er wußte nicht, daß der Wind seit dem frühen Nachmittag die Richtung geändert hatte.
    Kiy geriet in Panik. Kaltes Entsetzen erfaßte ihn. Er blieb stehen, sah nach allen Seiten und erblickte nichts als die endlosen Reihen der hohen Stämme um sich herum: Er hatte sich hoffnungslos verirrt.
    Ein paarmal rief er laut nach seiner Mutter, aber sein Rufen verhallte ungehört. Vielleicht würde er nie wieder nach Hause kommen. Er setzte sich mutlos neben einen umgestürzten Baumstamm. Großer Jammer überkam ihn, und er begann zu weinen. Nach einiger Zeit wurden seine Lider schwer, sein Kinn sank auf die Brust, und er schlief ein.
    Zuerst dachte er, er träume, als er den kleinen Bären sah. Offenbar war er von seiner Mutter fortgelaufen und tapste nun eilig dahin, um sie wieder einzuholen.
    Kiy rieb seine Augen, rappelte sich hoch und starrte hinter dem Bärenjungen her. War es möglich, daß er es endlich doch gefunden hatte? Er konnte sein Glück kaum fassen. Der kleine Bär war immer noch zu sehen – gerade steuerte er auf eine braune Gestalt in etwa hundert Metern Entfernung zu, die die Mutter sein mußte. Der kleine Junge lief hinter den beiden her. Eines wußte er: Er mußte sehen, welchen Weg sie nähmen. So schnell er konnte, folgte er ihnen.
    Sie führten ihn durch den Wald, über eine Lichtung in den nächsten Wald. Ab und zu erstarrte er bei dem Gedanken, sie könnten ihn entdecken. Meist blieb er außer Sichtweite und folgte nur den Geräuschen, die sie verursachten. Mehrmals wären sie ihm beinahe entwischt. Als er wieder einmal in völliger Stille stand, sah er zu seiner Rechten einen Sonnenflecken hinter einer Birkengruppe, was auf eine Lichtung hindeutete. Vielleicht waren die Bären dort? Da entdeckte er vor sich am Rand der Lichtung ein Aufleuchten in den Bäumen, ein Glitzern in Rot, Silber und Gold. Was mochte das nur sein? Freude durchzuckte Kiy – natürlich, das mußte es sein! Wer sonst lebte auf einem Baum und leuchtete so? Wer sonst hütete die kostbaren Dinge, nach denen die Menschen suchten, und bestimmt hütete er in diesem Augenblick das Bärenjunge. Wer sonst als das seltenste und schönste aller Waldwunder? Das konnte nur der Feuervogel sein.
    Der Feuervogel hatte ein vielfarbiges Gefieder, das noch im Dunkeln glitzerte und glänzte. Wer eine seiner langen Schwanzfedern ausriß, könnte alles haben, was er sich
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