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Blutige Küsse und schwarze Rosen

Blutige Küsse und schwarze Rosen

Titel: Blutige Küsse und schwarze Rosen
Autoren: Irina Meerling
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Prolog
    Zuvor
     
    Der weitläufige Baggersee lag glatt wie ein Spiegel vor ihm. In der nächtlichen Brise kräuselte sich kaum eine Welle auf dem dunkel schimmernden Wasser, das die Reflektionen des silbernen Vollmondes und der hohen Bäume zeigte, die den See umrahmten. Eine alles durchdringende Stille und Einsamkeit umgab das abgelegene Gebiet um das Gewässer. Keine Menschenseele war hier anzutreffen.
    Er war allein an diesem so unwirklichen Ort, hatte sich hierher zurückgezogen, um die Zeit für einige Momente anzuhalten und einfach durchatmen zu können.
    Ein kurzer Augenblick zum Durchatmen … Dies war eine Kostbarkeit, die ihm viel zu oft verwehrt wurde. Ein wenig mehr Zeit. Zeit für sich. Zeit zum Leben.
    Heute waren die Auseinandersetzungen ein weiteres Mal eskaliert. Die Schreie zu Hause hatten nicht abbrechen wollen, waren erneut völlig außer Kontrolle geraten. Noch immer konnte er sie hören. Die Schreie. Das Splittern von Glas. Die Geräusche hatten sich längst in sein Inneres gebrannt – ebenso wie der Anblick seiner Mutter. Tränenüberströmt, eine Hand an der blutigen Wange.
    Er hatte es nicht mehr mit ansehen können: das Leid, in welchem sie freiwillig ihr Leben weiterführte. Er hatte sie verteidigen wollen, hatte sich zwischen seine Mutter und ihn geschoben. Hatte sich ihm entgegengestellt, um die blauen Flecken und Schürfwunden auf sich zu nehmen. Er hatte zurückgeschlagen, sich zur Wehr gesetzt …
    … und war dafür bestraft worden. Von seiner Mutter – der Frau, die wieder den Falschen in Schutz genommen hatte.
    Hier draußen war es nur der sanfte Wind, der seine Haut berührte. Eine zärtliche Streicheleinheit, wie er sie schon als Kind nie erfahren hatte.
    Doch auch heute würde er wieder zurückkehren. Dahin, wo ein Tag dem anderen folgte, ohne eine Veränderung mit sich zu bringen. Und das nur, weil sie zu schwach war, um diesen Mann zu verlassen.
    Dennoch blieb sie seine Mutter. Er musste sie beschützen. Weil niemand sonst es tat.
    Ein letztes Mal ließ er die Augen über das stille Gewässer gleiten und versuchte, diese Ruhe in sich aufzunehmen, bevor er sein Leben fortsetzen musste. Er sog jede Einzelheit, jede Winzigkeit dieses Ortes in sich auf. Das nur stellenweise wachsende Gras, welches sich in der lauen Böe wiegte. Das einsame Quaken eines Frosches irgendwo am anderen Ufer des Sees. Die ausladenden Umrisse der Trauerweiden, deren herabhängende Blätterkleider vom Mondschein umhüllt wurden.
    Mit einem letzten tiefen Atemzug wandte er sich von diesem so beständig scheinenden Bild ab, als ihn ein plötzlicher Schlag in den Rücken auf die Knie zwang.
    Mühsam schnappte er nach Luft, aber seine Lungen gehorchten ihm nicht. Sie waren durch den heftigen Hieb wie gelähmt. Er konnte sich nicht aufrappeln. Jeder Versuch, sich hochzustemmen, wurde mit der Kraft von hundert Händen zunichtegemacht, die seinen Körper von hinten auf die Erde drückten. Er konnte nichts sehen, spürte nur diesen Druck sowie das kalte Seewasser, das langsam seine Kleidung tränkte – und einen stechenden Schmerz nahe der Kehle.
    Dann wurde alles schwarz.

Kapitel 1
    Mond
     
    Als Elias von der obersten Sprosse der Leiter hinab sah, jagte ihm die Entfernung zum Boden einen üblen Schwindel durch den Kopf. Mit angehaltener Luft balancierte er den Rest seines Gleichgewichtssinnes aus, den der Alkohol ihm gelassen hatte, und rupfte das schwarze Lametta von der Lampe, die sich inmitten der gemieteten Halle befand.
    „Wir werden noch bis zu meinem nächsten Geburtstag aufräumen müssen!“, meinte er vor Erschöpfung klagend und stieg mit vollen Händen wieder hinab, wobei ihn seine wuchtigen Boots nur schwer Halt finden ließen und Elias beinahe unfreiwillig schnell nach unten beförderten. „Für heute habe ich jedenfalls genug.“
    „Es war auch eine verdammt lange Nacht!“ Nico grinste ihm zu und deutete auf den mit Geschenken überhäuften Tisch. „Ich pack’ das Zeug dann schon mal ein, damit wir es nachher nicht vergessen“, sagte er und verzog im nächsten Moment neckend das Gesicht. „Andererseits wäre das kein Drama, bei dem unnützen Kram!“
    Elias lachte auf, als sein bester Freund stirnrunzelnd vor den Mitbringseln stand und einen Kerzenhalter in Form eines aufwendig gearbeiteten Totenkopfs in die Hand nahm. Nico wirkte beim Anblick der vielen Goth-Utensilien ein wenig verloren. Anders als Elias hatte er so gar nichts dafür übrig. Weder trug er die szenetypischen
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