Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
Vom Netzwerk:
Erde durch ein verfallendes Haus irrt. Er wird sich fragen, ob Kurt ihn, Alexander, auf irgendeine dunkle, unklare Weise vermisst. Dann wird er, nachdem er auch die Tortillas gegessen hat, seine Finger mit etwas Sand und Wasser reinigen und das alte Schachbrett aufklappen, in dem er die aus Kurts Ordner mit der Aufschrift PERSÖNLICH entnommenen Blätter verwahrt.
    Er hat die Blätter wiederentdeckt, als er das erste Mal mit dem Motorradrocker Schach spielte. Anfangs hat er geglaubt, es handle sich ausschließlich um Briefe Kurts an Irina. In Wirklichkeit sind es verschiedene Schriftstücke. Zum einen sind es tatsächlich Briefe: einzelne, ausgewählte Briefe an Irina, aber auch welche von ihr, sowie Kurts Briefe an ihn, Alexander, von denen Kurt – typisch – einen Durchschlag aufbewahrt hat. Zum anderen handelt es sich um Notizen, die Kurt in immer derselben, mageren Schrift auf die Rückseiten alter Abrechnungen oder verworfener Manuskriptseiten geschrieben hat. Notizen – wofür? Worüber?
    Zuerst hat Alexander ungeduldig und unsystematisch gelesen. Kurts Handschrift, obwohl auf den ersten Blick akkurat, ist nicht leicht zu entziffern. Die über und über bekritzelten Seiten haben Alexander abgestoßen. Es roch nach Pflicht. Es roch nach Kurt. Es war, als käme ihm in dieser Schrift noch einmal all das Fordernde, Raumgreifende, Beherrschende entgegen, das Kurt für ihn einmal bedeutet hat.
    Manches ist unverständlich geblieben, selbst wenn es ihm gelungen ist, die Buchstaben zu entziffern – als hätte Kurt es darauf angelegt, den Inhalt dessen, was er notierte, zu verbergen.
    Ein Eintrag über eine Parteiversammlung: Von «Rohdes Hinrichtung» ist die Rede. Von einem ZK-Mann, der Kurt an (unleserlich) erinnert. Von einem blauen Trabbi im Wald mit beschlagenen Scheiben.
    Hier und da sogar Aufzeichnungen in Russisch, obendrein so kryptisch, mit Abkürzungen gespickt, dass Alexander lange gebraucht hat, um zu begreifen, worum es sich überhaupt handelt – nämlich um Protokolle erotischer Erlebnisse. Warum hat Kurt das notiert? Warum in Russisch?
    Gut leserlich: eine Beschwerde über Charlotte, die gerade einen Artikel über die wirtschaftliche Entwicklung Mexikos schreibt:
    Keine Ahnung von nichts. Ruft sieben Mal täglich an. Will wissen, wie viel Nullen eine Million hat.
    Kurioses gibt es mitunter auf Rückseiten zu lesen: eine Beschwerde Kurts über eine ums Hundertfache zu hohe Gasrechnung oder einen Brief, in dem es um das kollektive Autorenhonorar für eine in Japan erschienene «Teilveröffentlichung» geht, von der Kurt vierundvierzig Mark zustehen, die Hälfte in Valuta auszuzahlen, falls er ein Valuta-Konto besitze; ansonsten in Forum-Schecks: Bitte umgehend melden! Der Brief ist vom Institutsdirektor und einem Stellvertreter gezeichnet.
    Es gibt auch Notizen, in denen Alexander vorkommt, wobei Kurts Erinnerungen von dem, was er selbst erinnert, erstaunlich stark abweichen: Er erinnert sich nicht, die Uniform für einen Krankenbesuch bei Wilhelm freiwillig angezogen zu haben; es wundert ihn, dass Kurt die blonde Christine als intelligent, aber ein bisschen zu hundertprozentig ansah; er fragt sich, wo er gewesen ist, als seine Mutter beim Anblick ihres uniformierten Sohns in Tränen ausbrach , weil sie sich, wie Kurt behauptet, daran erinnerte, wie ihr ein Vorgesetzter einmal befahl, einem verletzten deutschen Soldaten den Gnadenschuss zu geben – was sie verweigerte, obwohl auf Befehlsverweigerung die Todesstrafe stand. In Klammern: In Personenbeschreibung aufnehmen.
    Was ist das? Aufzeichnungen für einen Roman? Für einen zweiten, in der DDR spielenden Teil seiner Memoiren?
     
    An diesem Tag – am Tag von Mazunte – wird Alexander auf eine Notiz vom Februar 1979 stoßen. Selbstverständlich erinnert er sich an diesen Winter. Dass jedoch von ihm, von Alexander, die Rede ist, wird er erst ahnen, als es ihm gelungen ist, dies zu entziffern:
    Ist offenbar durchgedreht.
    Und ein Stück weiter unten:
    Belehrt mich, dass mein Leben eine einzige Lüge sei.
    Und noch ein Stück weiter unten (und noch erstaunlicher):
    Melitta zufolge geht er neuerdings in die Kirche.
    Das Bild, das auftauchen wird: die Schönhauser Allee. Schmutzige Schneeränder. Sein Vater geht neben ihm – aber wohin? Wohin gehen sie?
    Ziemlich deutlich: wie Kurt plötzlich stehen bleibt und schreit, und es wird Alexander so vorkommen, als höre er – vollkommen absurd – was Kurt schreit:
    In Afrika hungern die Leute!
    Es folgt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher