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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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eine Aufstellung aller geldwerten Zuwendungen, die er, Alexander, im Dezember 1978 erhalten hat – einschließlich der Weihnachtsgeschenke (zusammen zweitausendzweihundert Mark); es folgen Klagen darüber, wie sehr Irina seinetwegen – Alexanders wegen – leide; es folgt ein schwer zu entziffernder Satz über das Leben, das Kurt sich, wenn Alexander richtig liest, nicht versauen lassen will.
     
    Am Nachmittag, wenn die heißeste Stunde des Tages sich nähert, wird Alexander die losen Blätter wieder ins Schachbrett packen und zum Gästehaus aufsteigen. Der Motorradrocker wird ihn, als er ihn mit dem Schachbrett unter dem Arm kommen sieht, zu einer Partie auffordern, und Alexander wird zustimmen, obwohl die Nachmittagsschläfrigkeit ihm schon die Augen zuzudrücken beginnt.
    Wie immer, wenn sie Schach spielen, werden sie sich, um ungestört zu sein, auf die Bank hinter dem Frida-Kahlo-Trakt setzen, wo Alexander sonst die Zeitung vom zwölften September liest, seitlich einander zugewandt, das Schachbrett zwischen ihnen, leicht geneigt, wie die Sitzfläche.
    Alexander wird mit f2–f4 eröffnen, einer aggressiven, etwas leichtsinnigen Variante, die er oft – und anfangs mit Erfolg – gegen Kurt gespielt hat. Der Motorradrocker wird ganz unaufgeregt mit d7–d5 antworten, und Alexander wird, auch um einem späteren Dame h4 vorzubeugen, den Springer, den vor mehr als einem halben Jahrhundert ein Häftling aus dem Holz einer sibirischen Zeder geschnitzt hat und bei dem, seit Alexander denken kann, die Schnauze fehlt, nach f3 ziehen.
    Die Hühner der mexikanischen Angestellten werden hinter dem Maschendrahtzaun im fruchtlosen Sand herumpicken.
    Alexanders Gedanken werden, während er mechanisch 2. … c5, 3. e3 e6, 4. b3 Sc6, 5. Lb2 Sf6 und 6. Ld3 spielt, noch einmal zu jenem fernen Wintertag zurückkehren: zu den vereisten Gehwegen auf der Schönhauser, zu dem merkwürdigen, ziellosen Gang, zu der Afrika-Szene … Aber plötzlich wird der Film weitergehen: Alexanderplatz, kalter Wind. Das alte, längst nicht mehr existierende Automatenrestaurant links neben der Weltzeituhr – ist das möglich?
    Der Motorradrocker, der übrigens Xaver heißt, wird sich nach der beiderseitigen Rochade weit über das Brett beugen, sodass sein Kopf das halbe Spielfeld verdeckt, und Alexander wird, um nicht auf die rötliche Haut sehen zu müssen, die an den lichten Stellen zum Vorschein kommt, seinen Blick in die Ferne richten und sich, während der Kopf des Motorradrockers nachdenklich über der Stellung zu wippen beginnt, plötzlich an Details erinnern: an die damals modernen, aber schon abgeschabten Stehtische aus Sprelacart; an den metallenen Tresen; an den Geruch von – war es Kesselgulasch? Er wird Kurt sehen, in seinem Lammfellmantel und seiner biederen Pelzmütze, an einem jener Sprelacart-Tische stehend und seine Suppe löffelnd; er wird sich selbst sehen, von außen: kahl geschoren, in seinem zerschlissenen Parka und – unglaublich, auch das weiß er noch! – in jenem blauen, mehrfach und in nicht ganz passender Farbe geflickten Pullover, den zu tragen er damals für nötig befand, weil er das unerklärliche Bedürfnis verspürte, abstoßend zu wirken.
    Der Motorradrocker wird Dame b6 spielen, und Alexander wird schon im Moment, da der Motorradrocker gezogen hat, spüren, dass er nicht die nötige Konzentration aufbringen wird, um diesen eigentlich plumpen, kaum ernstzunehmenden Angriff auf seine durch die Eröffnung f2–f4 leicht entblößte Königsstellung zu entkräften.
     
    Nach der Schachpartie, die er nach dem siebzehnten Zug aufgegeben haben wird, wird er sich in die Hängematte vor seiner Zimmertür legen. Er wird sich mit den Fingerspitzen am Terrassengeländer abstoßen, wird seine vom Laufen ermüdeten Sehnen und Muskeln spüren, und während die Schwerkraft ihn in die Arme nimmt, werden allerlei Gedanken unkontrolliert in seinem Kopf umherspringen, Kolumbus wird ihm einfallen, der die Hängematte nach Europa gebracht hat, und der Gedanke, es könnte sich um eines der größten Missverständnisse zwischen den beiden Kulturen handeln, dass Kolumbus beim Anblick des indianischen Hängebetts nichts anderes sah als eine effektive Möglichkeit, Matrosen in Schiffen zu stapeln, wird Alexander für einen Augenblick als große Entdeckung erscheinen; auch wird er sich fragen, ob er gleich hätte Läufer d5 spielen sollen; noch einmal wird ihm der hässliche, mehrfach und in nicht ganz passender Farbe geflickte
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