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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Versuch.
    Eigentlich ein Witz, dachte Alexander, dass Kurts Verfall ausgerechnet mit der Sprache begonnen hatte. Kurt, der Redner. Der große Erzähler. Wie er dagesessen hatte in seinem berühmten Sessel – Kurts Sessel! Wie alle an seinen Lippen hingen, wenn er seine Geschichtchen erzählte, der Herr Professor. Seine Anekdoten. Komisch aber auch: In Kurts Mund verwandelte sich alles in eine Anekdote. Egal, was Kurt erzählte – selbst wenn er davon erzählte, wie er im Lager beinahe krepiert wäre –, immer hatte es eine Pointe, immer hatte es Witz. Hatte gehabt. Fernste Vergangenheit. Der letzte Satz, den Kurt zusammenhängend hatte sagen können, war: Ich habe die Sprache verloren. Auch nicht schlecht. Verglichen mit seinem heutigen Repertoire eine Glanznummer. Doch das war zwei Jahre her: Ich habe die Sprache verloren. Und die Leute hatten wirklich gedacht, sieh mal an, er hat die Sprache verloren, aber sonst … Sonst schien er noch einigermaßen beisammen zu sein. Lächelte, nickte. Zog Grimassen, die irgendwie passten. Verstellte sich schlau. Nur hin und wieder unterlief ihm Sonderbares: dass er den Rotwein in seine Kaffeetasse goss. Oder auf einmal ratlos mit einem Korken dastand – und ihn schließlich ins Bücherregal steckte.
    Miserable Quote: Ein Stückchen Gulasch hatte Kurt bisher geschafft. Jetzt griff er zu: mit den Fingern. Schaute schräg von unten zu Alexander herauf, wie ein Kind, das die Reaktion seiner Eltern prüft. Stopfte das Stück in den Mund. Und noch eins. Und kaute.
    Und während er kaute, hielt er seine beschmierten Finger hoch wie zum Schwur.
    – Wenn du wüsstest, sagte Alexander.
    Kurt reagierte nicht. Hatte endlich eine Methode gefunden: die Lösung des Gulaschproblems. Stopfte, kaute. Die Soße rann in einer schmalen Spur über sein Kinn.
    Kurt konnte nichts mehr. Konnte nicht sprechen, sich nicht mehr die Zähne putzen. Nicht einmal den Arsch abwischen konnte er sich, man musste froh sein, wenn er sich zum Scheißen aufs Klo setzte. Das Einzige, dachte Alexander, was Kurt noch konnte, was er aus eigenem Antrieb noch tat, wofür er sich wirklich interessierte und worauf er sein letztes bisschen Schlauheit verwendete, war essen. Nahrung aufnehmen. Kurt aß nicht mit Genuss. Kurt aß nicht etwa, weil es ihm schmeckte (seine Geschmacksnerven, davon war Alexander überzeugt, waren durch das jahrzehntelange Pfeiferauchen vollständig ruiniert). Kurt aß, um zu leben. Essen = Leben, diese Formel, dachte Alexander, hatte er im Arbeitslager gelernt, und zwar gründlich. Ein für alle Mal. Die Gier, mit der Kurt aß, mit der er sich Gulaschstückchen in den Mund stopfte, war nichts anderes als Überlebenswille. Das war das Letzte, was von Kurt übrig geblieben war. Was ihn über Wasser hielt, was diesen Körper weiter funktionieren ließ, eine außer Rand und Band geratene Herz-Kreislauf-Maschine, die sich selbst in Betrieb hielt – und sich wohl, so war zu befürchten, noch eine Weile in Betrieb halten würde. Kurt hatte alle überlebt. Er hatte Irina überlebt. Und nun bestand die reale Chance, dass er auch ihn, Alexander, überleben würde.
    Ein dicker Soßetropfen bildete sich an Kurts Kinn. Alexander überkam der starke Drang, Kurt wehzutun: ein Stück Küchenkrepp abzureißen und ihm die Soße grob aus dem Gesicht zu wischen.
    Der Tropfen zitterte, stürzte ab.
    War es gestern gewesen? Oder heute? Irgendwann während dieser zwei Tage, als er auf dem Büffelledersofa lag (reglos und aus irgendeinem Grunde immer bemüht, nicht mit der bloßen Haut an das Leder zu kommen), irgendwann war ihm der Gedanke gekommen: Kurt umzubringen. Mehr als nur der Gedanke. Er hatte Varianten durchgespielt: Kurt mit dem Kissen ersticken oder – der perfekte Mord – Kurt ein zähes Rindersteak servieren. So wie das Steak, an dem er beinahe erstickt war. Und hätte Alexander ihn, als er schon blau anlief und auf die Straße taumelte und dort bewusstlos umfiel – hätte Alexander ihn damals nicht instinktiv in die stabile Seitenlage gedreht und wäre nicht infolgedessen, zusammen mit Kurts Gebiss, auch der beinahe kugelrunde, durch endloses Kauen zusammengepappte Fleischkloß aus Kurts Rachen gerollt, dann wäre Kurt vermutlich schon nicht mehr am Leben, und diese Niederlage (wenigstens diese) wäre Alexander erspart geblieben.
    – Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht da war?
    Kurt war jetzt beim Rotkohl – seit einiger Zeit hatte er die infantile Angewohnheit angenommen, die
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