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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Verstehst du?
    – Ja, sagte Kurt und stand auf.
    – Ich bin noch nicht fertig, sagte Alexander.
    Aber Kurt reagierte nicht. Tapste ins Schlafzimmer, noch immer mit nur einem Hausschuh, zog seine Hosen aus. Sah Alexander erwartungsvoll an.
    – Mittagsschlaf?
    – Ja, sagte Kurt.
    – Na, dann wechseln wir mal die Windel.
    Kurt tapste ins Bad, Alexander glaubte schon, dass er verstanden hätte, aber im Bad zog Kurt die Windelhose ein Stück herunter und pisste in hohem Bogen auf den Fußboden.
    – Was machst du denn da!
    Kurt sah erschrocken auf. Konnte aber nicht mehr aufhören zu pissen.
     
    Nachdem Alexander seinen Vater geduscht, ins Bett gebracht und den Badfußboden gewischt hatte, war sein Kaffee kalt. Er schaute auf die Uhr: um zwei. Der Abenddienst würde frühestens um sieben kommen. Kurz überlegte er, ob er jetzt die siebenundzwanzigtausend Mark aus dem Wandsafe nehmen und einfach verschwinden sollte. Beschloss aber zu warten. Er wollte es vor den Augen seines Vaters tun. Wollte ihm die Sache erklären, auch wenn es sinnlos war. Wollte, dass Kurt Ja dazu sagte – auch wenn Ja das einzige Wort war, das er noch beherrschte.
    Alexander ging mit seinem Kaffee ins Wohnzimmer. Was nun? Was anfangen mit der verlorenen Zeit? Wieder ärgerte er sich darüber, dass er sich Kurts Rhythmus unterworfen hatte, und der Ärger darüber verband sich unwillkürlich mit dem schon notorisch gewordenen Ärger über das Zimmer. Nur dass es ihm jetzt, nachdem er vier Wochen nicht hier gewesen war, noch schlimmer vorkam: blaue Gardinen, blaue Tapeten, alles blau. Weil Blau die Lieblingsfarbe seiner letzten Angebeteten gewesen war … Idiotisch, mit achtundsiebzig. Kaum dass Irina ein halbes Jahr unter der Erde gelegen hatte … Sogar die Servietten, die Kerzen: blau!
    Ein Jahr lang hatten die beiden sich aufgeführt wie Pennäler. Hatten einander Herzchenpostkarten geschickt und ihre gegenseitigen Liebesgeschenke in blaues Papier eingewickelt, dann hatte die Angebetete wohl bemerkt, dass Kurt zu verblöden begann – und war verschwunden. Zurück blieb der blaue Sarg , so nannte es Alexander. Eine kalte blaue Welt, die nun von niemandem mehr bewohnt wurde.
    Nur die Essecke war noch wie früher. Obwohl, auch das nicht … Kurt hatte zwar die Furniertapete nicht angerührt – Irinas Stolz: echte Furniertapete! Sogar das sogenannte Sammelsirium (Irina-Deutsch) war noch da – aber wie! Kurt hatte diese wildgewachsene Sammlung abstrusester Mitbringsel und Erinnerungsstücke, die die Furniertapete mit den Jahren überwuchert hatte, im Zuge seiner Renovierung komplett abgenommen, entstaubt, das «Wichtigste» (oder was Kurt dafür hielt) ausgewählt und in «lockerer Ordnung» (oder was Kurt dafür hielt) wieder an der Furniertapete platziert. Wobei er versucht hatte, schon vorhandene Nagellöcher «zweckmäßigerweise» zu nutzen. Kurts Kompromissästhetik. So sah es auch aus.
    Wo war der kleine Krummdolch, den der Schauspieler Gojkovic – Häuptling aller DEFA-Indianerfilme, immerhin! – Irina einmal geschenkt hatte. Und wo war der Kuba-Teller, den die Genossen aus dem Karl-Marx-Werk Wilhelm zum neunzigsten Geburtstag überreicht hatten, und Wilhelm, so wurde erzählt, hatte die Brieftasche gezückt und einen Hunderter auf den Teller geknallt – weil er glaubte, er werde um eine Spende für die Volkssolidarität gebeten …
    Egal. Gegenstände, dachte Alexander … Einfach bloß Gegenstände. Für den, der nach ihm kam, ohnehin bloß ein Haufen Sperrmüll.
    Er ging hinüber in Kurts Arbeitszimmer, das auf der anderen (wie Alexander fand: schöneren) Seite lag.
    Ganz im Gegensatz zum Wohnzimmer, wo Kurt alles umgekrempelt hatte – auch Irinas Möbel hatte er ausgetauscht, die schöne alte Vitrine gegen irgendein grässliches Möbel aus MDF-Platten; selbst Irinas wunderbares, zeitlebens wackliges Telefontischchen hatte Kurt abgeschafft; und, was Alexander ihm besonders übelgenommen hatte, sogar die Wanduhr: die freundliche alte Uhr, deren Mechanik zu jeder halben und vollen Stunde zu schnurren pflegte, zum Zeichen, dass sie noch immer ihren Dienst versah, obwohl das Gehäuse für den Gong fehlte, ursprünglich war es nämlich eine Standuhr gewesen, Irina hatte sie, einer Mode folgend, aus dem Kasten genommen und an die Wand gehängt, und Alexander konnte sich bis heute daran erinnern, wie Irina und er die Uhr geholt hatten und dass Irina es nicht fertiggebracht hatte, der alten Dame, die sich von der Uhr trennte,
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