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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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hatte Kurt sein Werk verfasst. Hier hatte er gesessen, in einer medizinisch schwer bedenklichen Sitzhaltung, auf einem Stuhl, der eine ergonomische Katastrophe war, hatte seine Pfeifen geraucht, seinen sauren Filterkaffee getrunken und im Viereinhalb-Finger-System auf seiner Schreibmaschine herumgehämmert, tack-tack-tack-tack, Papa arbeitet! Sieben Seiten täglich, das war seine «Norm», aber es kam auch vor, dass er zum Mittagessen verkündete: Zwölf Seiten heute! Oder: Fünfzehn! Eine komplette Spalte seiner schwedischen Wand hatte er auf diese Weise zusammengehämmert, ein Meter mal drei Meter fünfzig, alles voll mit dem Zeug, «einer der produktivsten Historiker der DDR», hatte es geheißen, und selbst wenn man die Artikel aus den Zeitschriften, in die sie eingebunden waren, und die Beiträge aus den Sammelbänden herausnahm und sie – zusammen mit den zehn oder zwölf oder vierzehn Büchern, die Kurt verfasst hatte – in eine Reihe stellte, hatte sein Werk noch immer eine Gesamtregalbreite, die fast mit der des Lenin’schen Werks konkurrieren konnte: ein Meter Wissenschaft. Für diesen Meter Wissenschaft hatte Kurt dreißig Jahre geschuftet, dreißig Jahre lang die Familie terrorisiert. Für diesen Meter hatte Irina gekocht und Wäsche gewaschen. Für diesen Meter hatte Kurt Orden und Auszeichnungen, aber auch Rüffel und einmal sogar eine Rüge von der Partei erhalten, hatte mit den vom ewigen Papiermangel gebeutelten Verlagen um Auflagenhöhen gefeilscht, hatte einen Kleinkrieg um Formulierungen und Titel geführt, hatte aufgeben müssen oder hatte mit List und Zähigkeit Teilerfolge erzielt – und nun war alles, alles MAKULATUR.
    So hatte Alexander gedacht. Wenigstens diesen Triumph hatte er nach der Wende geglaubt verbuchen zu können: Alles das, so hatte er geglaubt, habe sich nun erledigt. Diese angebliche Forschung, dieses ganze halbwahre und halbherzige Zeug, das Kurt da über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zusammengehämmert hatte – das alles, so hatte Alexander geglaubt, würde mit der Wende hinweggespült, und nichts von Kurts sogenanntem Werk würde bleiben.
    Aber dann hatte sich Kurt noch einmal auf seinen katastrophalen Stuhl gesetzt, mit schon fast achtzig, und hatte klammheimlich sein letztes Buch zusammengehämmert. Und obwohl dieses Buch kein Welterfolg geworden war – ja, zwanzig Jahre früher wäre ein Buch, in dem ein deutscher Kommunist seine Jahre im Gulag beschrieb, möglicherweise ein Welterfolg geworden (nur war Kurt zu feige gewesen, es zu schreiben!) –, aber auch wenn es kein Welterfolg geworden war, so war es doch, ob man wollte oder nicht, ein wichtiges, ein einzigartiges, ein «bleibendes» Buch – ein Buch, wie es Alexander nicht geschrieben hatte und nun wohl auch nicht mehr schreiben würde.
    Wollte er das? Hatte er nicht immer davon geredet, dass er sich zum Theater hingezogen fühlte, gerade weil Theater etwas Vergängliches war? Vergänglich – klang gut. Solange man keinen Krebs hatte.
     
    Die Mücken tanzten im Sonnenlicht, Kurt schlief noch immer – dabei hieß es doch, alte Leute schliefen nicht mehr so viel. Alexander beschloss, sich ebenfalls ein wenig hinzulegen.
    Als er schon im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, fiel sein Blick auf den Ordner mit der Aufschrift PERSÖNLICH, der ihn schon immer angezogen, den zu öffnen er aber nie gewagt hatte – obwohl er als Jugendlicher nicht einmal vor der erotischen Fotosammlung seines Vaters zurückgeschreckt war. Bis Kurt ein Sicherheitsschloss in die Schranktür einbauen ließ.
    Er nahm den Ordner heraus: Zettel, Notizen. Kopien von Dokumenten. Obenauf mehrere Briefe, mit violetter Tinte geschrieben, wie es vor vielen Jahren in Russland üblich gewesen war:
    «Liebste Ira!» (1954)
    Alexander blätterte … Typisch Kurt. Selbst seine Liebesbriefe hatte er akkurat zweiseitig beschrieben, in gestochener Schrift, alle Seiten bis zum Letzten gefüllt, und zwar in gleichmäßigem Zeilenabstand, ohne dass die Zeilen am Ende eines Briefes auseinanderrückten oder sich drängten oder dass irgendwo der Rand einer Seite zusätzlich beschrieben war … Wie hatte der Kerl das gemacht? Und bei alldem die irritierend überschwänglichen Anreden, mit denen er Irina überschüttete:
    «Liebe, liebste Irina!» (1959)
    «Meine Sonne, mein Leben!» (1961)
    «Meine geliebte Frau, mein Freund, meine Gefährtin!» (1973)
    Alexander stellte den Ordner zurück und stieg die Treppen hinauf zu Irinas Zimmer. Er
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