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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Abteilungen nacheinander zu leeren: zuerst das Fleisch, dann das Gemüse, dann die Kartoffeln. Erstaunlicherweise hatte er jetzt die Gabel wieder in der Hand – sogar richtig herum. Schaufelte Rotkohl.
    Alexander wiederholte seine Frage:
    – Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht hier war?
    – Ja, sagte Kurt.
    – Das hast du also bemerkt. Wie lange denn: eine Woche oder ein Jahr?
    – Ja, sagte Kurt.
    Oder sagte er: Jahr?
    – Ein Jahr also, fragte Alexander.
    – Ja, sagte Kurt.
    Alexander lachte. Dabei kam es ihm tatsächlich vor wie ein Jahr. Wie ein anderes Leben – nachdem das Leben davor mit einem einzigen, mit einem banalen Satz beendet worden war:
    – Ich schicke Sie mal in die Fröbelstraße.
    So hieß der Satz.
    – Fröbelstraße?
    – Klinikum.
    Erst draußen war er auf die Idee gekommen, die Schwester zu fragen: ob das heiße, dass er Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen solle. Und die Schwester war nochmal ins Sprechzimmer gegangen und hatte gefragt, ob das heiße, dass der Patient Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen solle. Und der Arzt hatte gesagt, der Patient solle Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen. Und das war’s.
    Vier Wochen. Siebenundzwanzig Ärzte (er hatte nachgezählt). Moderne Medizin.
    Der Assistenzarzt, der wie ein Abiturient aussah und ihm – in einem irrwitzigen Aufnahmesaal, wo hinter Paravents irgendwelche Schwerkranken stöhnten – die Grundsätze der Diagnostik erklärt hatte. Der Pferdeschwanz-Arzt, der gesagt hatte: Marathonläufer haben keine gefährlichen Krankheiten (sehr sympathischer Mann). Die Radiologin, die ihn gefragt hatte, ob er in seinem Alter etwa noch Kinder zeugen wolle. Der Chirurg mit dem Namen Fleischhauer. Und natürlich der pockennarbige Karajan: Oberarzt Dr.   Kaufmann.
    Und noch zweiundzwanzig andere.
    Und wahrscheinlich noch zwei Dutzend Laboranten, die das ihm abgezapfte Blut in Reagenzgläser gefüllt, seinen Urin durchleuchtet, sein Gewebe unter irgendwelchen Mikroskopen betrachtet oder in irgendwelche Zentrifugen gesteckt hatten. Und das alles mit dem erbärmlichen, mit dem geradezu unverschämten Ergebnis, das Dr.   Kaufmann in zwei Worte gefasst hatte:
    – Nicht operabel.
    Hatte Dr.   Kaufmann gesagt. Mit seiner knarzigen Stimme. Mit seinen Pockennarben. Seiner Karajan-Frisur. Nicht operabel, hatte er gesagt und sich auf seinem Drehstuhl hin und her gewiegt, und die Gläser seiner Brille hatten geblitzt im Rhythmus seiner Bewegung.
    Kurt hatte jetzt auch das Rotkohlfach geleert. Machte sich an die Kartoffeln: trocken. Alexander wusste schon, was jetzt kam (falls er Kurt nicht sofort ein Glas Wasser hinstellte). Nämlich dass die trockenen Kartoffeln Kurt im Hals stecken blieben, dass er einen brüllenden Schluckauf bekam, sodass man glaubte, der Magen würde gleich mit herauskommen. Wahrscheinlich konnte man Kurt auch mit trockenen Kartoffeln ersticken.
    Alexander stand auf und füllte ein Glas mit Wasser.
    Kurt, komischerweise, war operabel : Kurt hatte man drei Viertel des Magens herausoperiert. Und er aß mit seinem Rest Magen, als hätte man ihm noch drei Viertel Magen dazugegeben. Egal, was es gab: Kurt aß immer den Teller leer. Er hatte auch früher immer den Teller leer gegessen, dachte Alexander. Egal, was Irina ihm vorgesetzt hatte. Er hatte es aufgegessen und gelobt – ausgezeichnet! Immer dasselbe Lob, immer dasselbe «Danke» und «Ausgezeichnet», und erst Jahre später, nach Irinas Tod, als es gelegentlich dazu kam, dass Alexander kochte – erst da hatte Alexander begriffen, wie zermürbend, wie demütigend dieses ewige «Danke!» und «Ausgezeichnet!» für seine Mutter gewesen sein mussten. Man konnte Kurt nichts vorwerfen. Tatsächlich hatte er nie etwas verlangt, noch nicht einmal von Irina. Wenn keiner kochte, ging er ins Restaurant oder aß eine Butterstulle. Und wenn jemand für ihn kochte, bedankte er sich artig. Dann machte er seinen Mittagsschlaf. Dann seinen Spaziergang. Dann erledigte er seine Post. Was war dagegen zu sagen? Nichts. Das war es ja gerade.
    Kurt tupfte mit den Fingerspitzen die letzten Kartoffelkrümel auf. Alexander reichte ihm eine Serviette. Kurt wischte sich tatsächlich den Mund, faltete die Serviette wieder ordentlich zusammen und legte sie neben den Teller.
    – Hör zu, Vater, sagte Alexander. Ich war im Krankenhaus.
    Kurt schüttelte den Kopf. Alexander fasste ihn am Unterarm und versuchte es noch einmal mit Nachdruck.
    – Ich – er zeigte auf sich – war im Kran-ken-haus!
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