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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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ließ sich auf das große, mit einer Art Teddybärfell bezogene Sofa fallen, versuchte ein bisschen zu schlafen. Stattdessen sah er wieder den pockennarbigen Karajan, der sich, wie aufgezogen, in seinem Drehsessel hin und her wiegte. Die Gläser seiner Brille blitzten, die Stimme wiederholte immer wieder denselben Satz … Schluss damit. Er musste an etwas anderes denken. Er hatte einen Entschluss gefasst, es gab nichts mehr zu denken, nichts zu beschließen.
    Er öffnete die Augen. Betrachtete Irinas Kuscheltiere, die auf der Lehne saßen, ordentlich nebeneinander – so wie die Putzfrau sie aufgereiht hatte: der Hund, der Igel, der Hase mit seinem angekokelten Ohr …
    Und was, wenn sie sich geirrt hatten?
    Absurd, dachte er, dass Irina bis zum Schluss dein Zimmer gesagt hatte. Ihr schlaft oben in deinem Zimmer , der Satz klang ihm plötzlich im Ohr. Dabei konnte man sich wohl kaum ein Zimmer vorstellen, das mehr als dieses die perfekte, wenn auch späte Verwirklichung eines Mädchentraums darstellte: rosa Wände. Ein Rokokospiegel, beschädigt, aber echt. Am Fenster stand ein weiß angestrichener Sekretär, an dem Irina sich gern in nachdenklicher Pose hatte fotografieren lassen. Und die zerbrechlichen Vermutlich-auch-Rokoko-Stühlchen posierten so anmutig im Raum, dass man sich nicht daraufsetzen mochte.
    Und tatsächlich, sobald er sich Irina hier vorzustellen versuchte, sah er sie auf dem Fußboden sitzen, bei ihren einsamen Orgien, wenn sie ihre krächzenden Wyssozki-Kassetten hörte und sich allmählich betrank.
    Und dort das Telefon, noch der DDR-Apparat, der früher unten gestanden hatte. Noch derselbe Apparat, in den sie mit tonloser Stimme diese vier Worte gesprochen hatte:
    – Saschenka. Du. Musst. Kommen.
    Vier Worte aus dem Mund einer russischen Mutter, deren ganzer Stolz es gewesen war, ihren Sohn niemals im Leben um irgendetwas gebeten zu haben:
    – Saschenka. Du. Musst. Kommen.
    Und nach jedem Wort ein langes, atmosphärisches Knistern, sodass man versucht war aufzulegen, weil man glaubte, die Leitung sei unterbrochen.
    Und er? Was hatte er gesagt?
    – Ich komme, wenn du aufgehört hast zu trinken.
    Er stand auf, ging zu dem weiß angestrichenen Sekretär, in dessen unübersichtlichen Geheimfächern sie nach Irinas Tod ihre Alkoholvorräte gefunden hatten. Öffnete ihn, begann wie ein Süchtiger ihn zu durchsuchen. Ließ sich wieder aufs Sofa fallen. Es gab hier keinen Alkohol mehr.
    Oder hatte er «saufen» gesagt? Ich komme, wenn du aufgehört hast zu saufen?
    Vierzehn Tage später war er zum Beerdigungsinstitut gefahren, um seine Mutter wieder zum Leben zu erwecken … Nein, er war hingefahren, weil es noch irgendwelche Formalitäten zu erledigen gab. Aber dann, schon auf der Straße, hatte ihn die fixe Idee überkommen, er könnte seine Mutter wiedererwecken, wenn er nur zu ihr sprach . Und nachdem er zweimal um den Block marschiert war und sich die Sache auszureden versucht hatte, war er schließlich hineingegangen und hatte seine Mutter zu sehen verlangt und hatte sich auch nicht davon abbringen lassen, als man ihm fachkundig riet, sie doch lieber so in Erinnerung zu behalten, wie sie «im Leben» gewesen war.
    Dann hatte man sie hereingerollt. Ein Vorhang ging zu. Er stand neben einer nachlässig zurechtgemachten Leiche, die, zugegeben, seiner Mutter nicht unähnlich sah (abgesehen von dem zu kleinen Gesicht und den ziehharmonikaartigen Fältchen auf der Oberlippe), stand neben ihr und wagte nicht, sie anzusprechen vor den beiden Mitarbeitern des Beerdigungsinstituts, die hinter dem Vorhang lauerten, so dicht, dass man ihre Schuhe am unteren Rand des Vorhangs sah. Nur um überhaupt etwas versucht zu haben, berührte er ihre Hand – und stellte fest, dass sie kalt war: kalt wie ein Stück Huhn, das man aus dem Kühlschrank nimmt.
    Nein, sie hatten sich nicht geirrt. Es gab ein Röntgenbild. Es gab ein CT. Es gab Laborwerte. Es war klar: Non-Hodgkin-Lymphom, langsam wachsender Typ. Gegen das es – wie taktvoll ausgedrückt! – bis heute keine wirksame Therapie gebe.
    – Und was heißt das, in Jahren ausgedrückt?
    Und dann drehte sich dieser Mensch eine Ewigkeit auf seinem Stuhl hin und her, mit einem Gesicht, als sei es eine Zumutung, eine solche Frage beantworten zu müssen, und sagte:
    – Eine Prognose werden Sie von mir nicht hören.
    Und seine Stimme schnarrte – wie der Sauerstoffapparat des alten Mannes in seinem Zimmer.
     
    Zeitmaße. Zwölf Jahre: die Wende. Unerreichbare
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