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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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mitzuteilen, dass der Uhrkasten eigentlich überflüssig war; wie sie extra einen Nachbarn hatten bitten müssen, beim Verladen des kompletten Uhrkastens zu helfen, und wie der riesige Kasten, den sie nur zum Schein abtransportierten, aus dem Kofferraum des kleinen Trabbi herausgeragt hatte, sodass das Auto vorn fast die Bodenhaftung verlor – im Gegensatz zum totalrenovierten Wohnzimmer war in Kurts Zimmer noch alles, und zwar auf gespenstische Weise, beim Alten:
    Der Schreibtisch stand schräg vor dem Fenster – vierzig Jahre lang war er nach jeder Renovierung wieder genau in die Druckstellen im Teppich gestellt worden. Ebenso die Sitzecke mit Kurts großem Sessel, in dem er mit krummem Rücken und gefalteten Händen gesessen und seine Anekdoten erzählt hatte. Und auch die große schwedische Wand (wieso eigentlich schwedische Wand?) stand wie eh und je. Die Bretter bogen sich unter der Last der Bücher; hier und da hatte Kurt ein zusätzliches, farblich nicht ganz passendes Brett eingezogen, aber die kosmische Ordnung war unverändert – eine Art letztes Back-up von Kurts Gehirn: Dort standen die Nachschlagewerke, die auch Alexander mitunter benutzt hatte (Aber zurückstellen!), dort die Bücher zur russischen Revolution, da in langer Reihe die rostbraunen Lenin-Bände, und links neben Lenin, in der letzten Abteilung, unter dem Ordner mit der strengen Aufschrift PERSÖNLICH, stand noch immer – Alexander hätte es blindlings herausgreifen können – das aufklappbare, ramponierte Schachbrett mit den Figuren, die irgendein namenloser Gulag-Häftling irgendwann einmal geschnitzt hatte.
    Das Einzige, was – abgesehen von neuen Büchern – in vierzig Jahren hinzugekommen war, waren ein paar der ursprünglich zahlreichen Erinnerungsstücke, die die Großeltern aus Mexiko mitgebracht hatten; das meiste war nach ihrem Tod in einer überstürzten Aktion verschenkt und verscherbelt worden, und auch die wenigen Dinge, von denen sich Kurt merkwürdigerweise nicht hatte trennen wollen, hatten es nicht geschafft, ins «Sammelsirium» aufgenommen zu werden – angeblich aus Platzmangel, in Wirklichkeit aber, weil Irina ihren Hass auf alles, was aus dem Hause der Schwiegereltern kam, nie hatte überwinden können. Also hatte Kurt sie «provisorisch» in seine schwedische Wand eingefügt, und dort waren sie «provisorisch» geblieben, bis heute: Das ausgestopfte Haifischbaby, von dessen rauer Haut Alexander als Kind beeindruckt gewesen war, hatte Kurt mit Geschenkband an einer Regalsprosse aufgehängt; die furchteinflößende aztekische Maske lag noch immer mit dem Gesicht nach oben im Vitrinenfach mit den unzähligen kleinen Schnapsfläschchen; und die große, gewundene, rosafarbene Muschel, in die Wilhelm – keiner wusste, wie – eine Glühbirne eingebaut hatte, stand noch immer ohne Elektroanschluss auf einem der Unterschränke.
    Wieder musste er an Markus denken: an seinen Sohn. Musste sich vorstellen, wie Markus hier umging, mit Kapuze und Kopfhörern in den Ohren – so hatte er ihn das letzte Mal, vor zwei Jahren, gesehen –, musste sich vorstellen, wie Markus vor Kurts Bücherwand stand und die Regalbretter mit den Stiefelspitzen anstupste; wie er die Dinge, die sich in vierzig Jahren hier angesammelt hatten, durch seine Hände gehen ließ und auf Gebrauchswert oder Verkäuflichkeit prüfte: Kaum jemand würde ihm den Lenin abkaufen; für das klappbare Schachbrett bekam er womöglich noch ein paar Mark. Einzig das ausgestopfte Haifischbaby und die große rosa Muschel würden ihn vermutlich interessieren, und er würde sie in seiner Bude aufstellen, ohne sich über ihre Herkunft Gedanken zu machen.
    Für eine Sekunde tauchte der Gedanke auf, die Muschel mitzunehmen, um sie dort, wo sie herkam, ins Meer zu werfen – aber dann kam es ihm vor wie eine Szene aus einer Fernsehschmonzette, und er verwarf den Gedanken wieder.
    Er setzte sich an den Schreibtisch und öffnete die linke Tür. Im mittleren Schubfach ganz hinten, in der uralten ORWO-Fotopapierschachtel, lag, versteckt unter Klebstofftuben, seit vierzig Jahren der Schlüssel zum Wandsafe – und er lag immer noch da (plötzlich hatte Alexander die blödsinnige Vorstellung angefallen, der Schlüssel könnte verschwunden sein und seine Pläne wären im Eimer).
    Er steckte den Schlüssel vorsichtshalber ein – als ob ihn jetzt noch jemand wegnehmen könnte. Trank einen Schluck kalten Kaffee.
    Seltsam, wie winzig Kurts Schreibtisch war. An diesem Tischlein
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