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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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nicht Lotti, sagte Charlotte. Sonst rufe ich die Polizei.
    Sie ging in die Diele, setzte sich auf den Stuhl, auf dem sie sonst ihre Schuhe wechselte, und wartete, bis Lisbeth verschwunden war.
    Dann wartete sie noch, bis ihre Hände aufgehört hatten zu zittern.
    Dann ging sie in die Küche und schloss die Tür. Drehte den Schlüssel um, horchte.
    Ihr Atem war ruhig.
    Sie goss Wilhelms Abendtee in seine Abendtee-Tasse. Nahm die Tropfen aus der Hosentasche. Gab zwei Esslöffel in den Tee. Stieg achtzehn Stufen zum oberen Flur hinauf und stellte die Tasse auf Wilhelms Nachttisch.
    Dann ging sie ins Bad und reinigte ihre Zähne.
    Sie stieg weitere sechsundzwanzig Stufen zum Turmzimmer hinauf. Sie entkleidete sich, faltete ihre Sachen Stück um Stück auf dem Stuhl zusammen. Löste das Etikett von ihrer Strickjacke, zerriss es und warf es in den Papierkorb.
    Die Socken steckte sie in die Schuhe.
    Sie schlüpfte in ihr weißes Baumwollnachthemd und legte sich ins Bett. Eine Weile las sie Oliver Twist von Charles Dickens. Zwar kannte sie das Buch bereits, hatte es vor vierzig Jahren schon einmal gelesen, aber in letzter Zeit las Charlotte am liebsten Bücher, die sie schon kannte und mochte, und am allerliebsten solche, die sie kannte und mochte und doch wieder vergessen hatte, sodass sie in den Genuss unverminderter Spannung kam.
    Als Oliver Twist verletzt und bewusstlos im Graben lag, klappte sie das Buch zu, um sich die Auflösung für morgen früh aufzusparen.
    Sie schaltete das Licht aus. Die Nacht war klar. Eine schmale Mondsichel stand am Himmel. Noch einmal fiel ihr Lisbeths kauendes Gesicht ein. Sie dachte an das Dienstmädchen, das sie damals in Mexiko gehabt hatte: ein zierliches, lautloses Geschöpf, das Charlotte – selbstverständlich – stets mit Señora angesprochen hatte. Leider fiel ihr der Name nicht ein. Aber dann fiel er ihr doch ein: Gloria! Was war wohl aus ihr geworden? Gloria. Ob sie noch lebte?
    Eine Weile lag sie mit offenen Augen und dachte an Gloria. Und an die Dachterrasse. Und an die mexikanische Mondsichel, welche immer so auf der Seite lag … Mehr ein Schiff, dachte sie, als eine Sichel. Dann war Adrian da.
    Sie wusste natürlich, dass es ein Traum war. Trotzdem versuchte sie, mit ihm zu reden. Versuchte ihn zu überzeugen, obwohl sie zugleich begriff, dass auch das Teil des Traums war – jenes Traums, den sie seit der Überfahrt träumte. Adrian schaute sie an. In seinem Gesicht waren Lichtflecken, wie Reflexionen einer bewegten Flüssigkeit. Er sah gut aus. Aber auch ein wenig gespenstisch. Trotzdem folgte sie ihm. Sie stiegen hinunter in den Maschinenraum. Sie gingen durch ein Labyrinth von Gängen und Treppen. Es dauerte eine Ewigkeit, und je länger es dauerte, desto unheimlicher wurde es ihr. Sie rannte ihm hinterher, aber obwohl er ganz ruhig ausschritt, hatte sie Mühe zu folgen. Schon war Adrian ihr weit voraus. Sie sah ihn in einen Gang einbiegen. Er bog immer in diesen Gang ein. Und immer folgte sie ihm, auch wenn die Tür am Ende des Ganges vermauert war.
    Glaubte Charlotte. Und wusste nicht, ob sie es bloß im Traum glaubte. Ob sie es immer im Traum glaubte oder nur dieses Mal. Oder ob sie jedes Mal glaubte, sie glaube es nur dieses Mal.
    Die Tür war offen. Charlotte schritt hindurch. Nun war Adrian wieder da, lächelte. Berührte sie sanft, drehte sie um – und Charlotte spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten: Coatlicue. Gefiederte Schlange. Coatlicue mit dem Zwei-Schlangen-Gesicht. Mit ihrer Kette aus ausgerissenen Herzen.
    Und eins davon, dieses dort, wusste sie, war Werners.

2001
    Er schaukelt leicht, stößt sich hin und wieder mit den Fingerspitzen am Terrassengeländer ab. Die süddeutschen Laute, die noch vereinzelt vom großen Tisch herüberkamen, sind verstummt. Verstummt ist auch das Schreien und Lachen, das gelegentlich vom Dorf heraufdringt, das Brummen der Automotoren, die geisterhaften Radiostimmen, die es hin und wieder von irgendwo heranweht, und das geschäftige Rumoren und Klappern aus der Küche des Gästehauses. Sogar die Palmenblätter haben aufgehört zu rascheln. Für einen Moment, in der größten Nachmittagshitze, scheint die Welt stillzustehen.
    Einzig das gleichmäßige Knirschen der Hanfseile ist noch zu hören. Und das ferne, belanglose Rauschen des Meeres.
    Schwebezustand. Embryonale Passivität.
    Später, nachdem er aus seinem halbdurchlässigen Schlaf erwacht ist, nachdem er sich aufgerafft hat, die Schwerkraft zu überwinden,
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