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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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die ihn mit unwiderstehlicher Sanftheit in die Hängematte drückt, nachdem er sich einen Kaffee geholt und im Vorbeigehen, kurz von der Tasse aufschauend, die beiden gerade angekommenen Rucksacktouristen gegrüßt hat, die, wie er selbst bei der Ankunft, fassungslos über den Ausblick auf der Terrasse stehen – später wird er sich, wie jeden Tag, auf die Bank hinter dem Frida-Kahlo-Trakt setzen, von wo aus man auf die Wellblechdächer der Hütten sieht, in denen die mexikanischen Angestellten von Eva & Tom wohnen, und Zeitung lesen.
    Es ist immer dieselbe Zeitung. Immer die mit dem Flugzeug, das in ein Hochhaus fliegt. Er liest langsam. Er liest die Artikel wieder und wieder, bis er einigermaßen versteht.
    Er versteht nicht alles.
    Er versteht, dass der amerikanische Präsident gesagt hat, man befinde sich in einer monumentalen Schlacht gegen das Böse. Und dass Amerika der hellste Leuchtturm der Freiheit sei.
    Er versteht, dass noch immer ein Teil der lateinamerikanischen Bevölkerung hungert; dass ein Teil sich von Müll ernährt.
    Er versteht, dass die Einführung des Euro als Zahlungsmittel auf Hochtouren läuft und dass die Börsen in aller Welt katastrophale Verluste verzeichnen.
    Was er nicht versteht: Warum verzeichnen die Börsen katastrophale Verluste? Wie hängt der Wert – etwa der Postaktie – mit dem Einsturz zweier Gebäude in Amerika zusammen? Werden jetzt weniger Briefe versandt?
    Was er ebenfalls nicht versteht, und auch nicht verstehen wird, wenn er den Artikel über die Armut in Lateinamerika heute nachmittag zum dritten und vierten Mal liest – zumindest wird das, was er verstanden haben wird, so unerhört klingen, dass er zweifeln wird, ob er richtig verstanden hat: dass sich nämlich auf den Müllhalden lateinamerikanischer Metropolen eine besondere, kleinwüchsige Menschenrasse entwickelt hat, die angeblich besser geeignet ist, unter den Bedingungen der Müllhalde zu überleben.
    Nach dem Zeitungslesen wird er noch einmal zum Strand gehen, wird sich in den hölzernen Liegestuhl setzen, neben dem der blaue Sonnenschirm steckt, für den er am ersten Tag eine erhebliche Leihgebühr bezahlt hat (und der seitdem selbstvergessen im Sand herumlungert), und dem Sonnenuntergang zusehen.
    Der Sonnenuntergang wird sein wie immer. Alle pazifischen Sonnenuntergänge, so hat er festgestellt, sind gleich: groß und rot und von einer – er weiß noch nicht, ob beruhigenden oder beunruhigenden – Gleichgültigkeit.
    Liebe Marion. In letzter Zeit passiert es häufig, dass ich an dich denke. Oft aus geringstem und, zugegeben, manchmal unbegreiflichem Anlass. Dass du mir beim Anblick des Sonnenuntergangs einfällst, mag noch angehen. Aber warum fällst du mir ein beim Anblick eines blauen Sonnenschirms – wo du doch Blau nicht magst? Warum fällst du mir ein, wenn ein Vogelschwarm von einer Stromleitung auffliegt? Warum fällst du mir ein, wenn ich meine Hand auf den lauwarmen Sand lege?
    Wenn die Sonne unwiderruflich ins Meer abgetaucht ist, wird er als einziger Gast an einem der weißen Plastiktische des «Al Mar» sitzen und Fisch essen. Er wird ein Glas Weißwein trinken. Er wird dem perlmutternen Abglanz am Himmel nachschauen, der ziemlich exakt von derselben Farbe ist wie die Innenseite der großen, leuchtenden Muschel von Oma Charlotte.
    Er wird sich darüber wundern, wie schief die Mondsichel hängt. Er wird (meist erfolglos) nach auf der Seite liegenden Sternbildern suchen.
    Wenn es vollständig dunkel ist, wird er ohne Eile die Stufen zu Eva & Tom hinaufsteigen, wo noch immer die übliche, von süddeutschen Lauten dominierte Runde um den Terrassentisch sitzt. Es sind lauter Bekannte von Eva, der Squaw, die sich jedes Jahr um diese Zeit hier versammeln: ein grauhaariger, kettenrauchender Mann im weiten, geblümten Hemd; ein etwas jüngerer Glatzkopf, der zusammen mit dem Kettenraucher in einem Zimmer schläft; die Frau, der ein Zahn fehlt, im selbstgebatikten Kleid; ein weiterer Mann, den Alexander den Strohhut nennt, weil er zu jeder Tageszeit einen zerfallenden Strohhut trägt, passend zu seinen zerfallenden, ehemals weißen Leinenklamotten; und ein Motorradrocker mit mehreren Ringen im Ohr.
    Der Motorradrocker (der sich später als Personalrat eines großen deutschen Stadtkrankenhauses entpuppen wird) hat Alexander erzählt, dass sie alle, außer dem Glatzkopf, sich in den siebziger Jahren hier kennengelernt haben und dass Eva und Tom hier hängengeblieben sind und aus einer verkifften
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