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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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direkt am Strand unter den mit Palmenblättern gedeckten Pfahlkonstruktionen, Palapas genannt, welche die zahlreichen kleinen Bars und Strandhotels – so vermutet er – billig vermieten. Einer jedoch, ein Wohlgeformter und Schicker mit blauen Augen und sonnengebleichtem Haar, wird sich ihm plötzlich anschließen, und Alexander wird, allen guten Vorsätzen zum Trotz, seine Schritte kaum merklich verlängern.
    – Hi, wird der Wohlgeformte sagen. Where’re you just coming from?
    – Puerto Angel, wird Alexander antworten, und der Wohlgeformte wird sagen:
    – Wow, great!
    Schon nach ein paar hundert Metern wird der Wohlgeformte anfangen zu schnaufen. Noch bevor die Bucht zu Ende ist, gibt er auf.
    – Wow, great, wird er noch einmal sagen und seine Hand heben zum Gruß, und Alexander wird von diesem unverhofft leichten K.-o.-Sieg dermaßen beflügelt sein, dass er beschließt, bis Mazunte zu laufen.
    Er war bereits in Mazunte, mit einem Sammeltaxi. Er hat das Schildkrötenmuseum besucht. Schildkröten interessieren ihn nicht im Geringsten, aber der Motorradrocker hat ihm den Besuch des Museums empfohlen, und zwar so nachdrücklich, dass es einer Beleidigung gleichgekommen wäre, dem nicht zu folgen. Früher, so hat ihm der Motorradrocker erzählt, sei in Mazunte eine Fabrik gewesen, in der die Wasserschildkröten, die jedes Jahr zur selben Zeit am Strand von Mazunte – und nur hier – ihre Eier ablegen, auf brutalste Art abgeschlachtet und zu Dosensuppe verarbeitet wurden. Nun sei das Abschlachten endlich verboten worden, und man widme sich stattdessen der Aufzucht und dem Schutz der Reptilien. Tatsächlich hat Alexander dann eine Stunde lang den Entwicklungszyklus der Wasserschildkröten studiert, hat die verschieden großen und kleinen Exemplare in den Becken betrachtet und war gerührt von der Fürsorglichkeit der Pfleger, die sich um die Schildkröten kümmern, sie heilen und wieder aussetzen und sogar deren Eier, wenn sie von irgendeinem der Tiere nicht richtig am Strand vergraben worden sind, einsammeln und auf der Station zur Ausbrut bringen, und er beschloss, diesen Ort jenem kleinen Teil von Erfahrungen zuzuschlagen, die, im Gegensatz zu den vielen gegenteiligen, dafür sprechen, dass sich die Menschheit allmählich bessert.
    Die Sonne wird gut eine Handbreit über dem Horizont stehen, wenn er in Mazunte einläuft, die Häuser von Mazunte werden dunkle, kantige Schatten werfen, und Alexander wird, wenn er den breiten Strand passiert, noch durch die Schuhe hindurch die Hitze des Sandes spüren, in dem die Schildkröten ihre Eier vergraben. Die Bucht von Mazunte ist breiter als die von Zipolite, breiter und wilder und leerer. Das Meer, so ist ihm gesagt worden, ist gefährlich hier. Und der Himmel ist größer – falls es nicht an der kleinen Endorphin-Dosis liegt, die ihm sein Körper nach etwas über zehn Kilometern spendiert. Auf seinem Gesicht wird sich ein Lächeln bilden. Die Beine werden laufen wie von selbst und seine Füße wie von selbst den festen Bereich auf der Strandböschung finden, den schmalen Grat zwischen zu feuchtem und zu trockenem Sand, zwischen Wasser und Erde. Das Meer wird züngeln nach ihm. Das Meer will ihn berauschen. Er wird jubeln, unhörbar, aber laut in das Rauschen hinein. Er wird die hochschießenden Wellen spielerisch und mit genau bemessenen Schritten umlaufen. Er wird fasziniert sein von der Präzision seiner Bewegungen. Er wird das Gefühl haben, als steuere er gar nicht selbst, als übernehme sein Körper die Führung, als löse er sich allmählich von dem, was da steuert – und im selben Augenblick, im Augenblick der Schwebe, wird sich der Gedanke in sein Bewusstsein drängen, dass das alles, das Da-Sein, vollständig und unwiderruflich ausgelöscht werden wird, und dieser Gedanke wird ihn treffen mit einer Wucht, dass er Mühe haben wird, sich auf den Beinen zu halten.
     
    Wenn er an diesem Tag wieder in Puerto Angel ankommt, wird er vierundzwanzig Kilometer gelaufen sein. Er wird mit dem typischen, kleinen Ziehen in den Achillessehnen die Treppe hochsteigen, wird deutlich die hintere Oberschenkelmuskulatur spüren und den dumpfen Druck in den von hundert- und tausendfachen Stauchungen beanspruchten Gelenken. Er wird geduldig die obligatorischen Dehnungsübungen an der Wand neben seinem Zimmer absolvieren, wird das Hohlkreuz auskrümmen, bis sich die Versteifung mit einem befreienden Knacken löst, und wird ohne besonderen Kraftaufwand die wieder einmal
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