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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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aufblitzende Hoffnung abwehren, dass seine Diagnose ein Irrtum sei. Er wird sich mit einer Trinkwasserflasche in der Hand noch im schweißnassen Shirt auf die breite, steinerne Terrassenbrüstung setzen und es, zumindest eine Zeitlang, als angenehm empfinden, den harten Pfeiler im Rücken zu spüren.
    Die beiden Rucksacktouristen, die gestern angereist sind, werden aus ihrem Zimmer kommen: zwei freundliche, junge Menschen, die gerade ihr Abitur gemacht haben dürften: eine makellose Schönheit und ein hochaufgeschossener, etwas magerer junger Mann. Sie werden aus ihrem Zimmer kommen und Alexander fragen, wo man hier eine Schnorchelausrüstung ausleihen kann.
    Die Frage wird Alexander nicht beantworten können.
    Die beiden werden versichern, dass dies kein Problem sei. Sie könnten ja unten im Dorf fragen.
    Sie werden ihm, wenn sie losgehen, zuwinken wie einem alten Bekannten, und Alexander wird zurückwinken. Er wird ihnen nachschauen, wie sie den Gang entlangschlendern und zur Treppe einbiegen; wie sie auf der obersten Stufe noch einmal kurz stehen bleiben, um, unhörbar für Alexander, über irgendetwas zu verhandeln. Die Schöne wird ihre Stirn kraus ziehen. Der magere junge Mann wird ihre Hände in seine Hände nehmen. Seine Schulterblätter werden sich durch das erdfarbene T-Shirt abzeichnen wie gestutzte Flügel.
    Alexander wird duschen gehen. Er wird, mit beiden Händen gegen die Wand gestemmt, das warme Wasser über seinen Rücken und seine Beine laufen lassen: lange – solange das Wasser im Boiler reicht.
    Dann wird er das zusammenklappbare Schachbrett seines Vaters unter den Arm klemmen und, trotz der Hitze jetzt ein wenig fröstelnd, zum Strand hinabsteigen. Er wird sich in seinen Liegestuhl unter dem blauen Sonnenschirm setzen und wird sich, bevor er sich seiner Vormittagsbeschäftigung widmet, bei einer der Mexikanerinnen, die hier am Strand umgehen, ein kleines Frühstück zusammenkaufen.
    Er kauft immer bei derselben Frau und immer dasselbe: einen Plastikbecher mit geschältem Obst und drei Tortillas; dennoch wird die Frau, wenn sie – nach Wahrung einer gewissen Anstandsfrist – neben ihm auftaucht und ihm ihre wenigen Waren vorlegt, ihn wieder mit demselben fragenden (aber keineswegs bittenden) Blick anschauen; sie wird, nachdem er seinen Obstbecher und seine Tortillas bekommen hat, im Kopf alles aufs Neue zusammenrechnen und zu einem Ergebnis kommen, das täglich ein wenig differiert, was Alexander mit der jeweiligen Zusammenstellung des Obstes in Zusammenhang bringt (heute sind es Mango, Ananas und Melone), was aber praktisch keine Bedeutung hat, weil die Summe, die er ihr, unter Einrechnung eines kleinen Trinkgelds, am Ende zu überlassen pflegt, ohnehin immer dieselbe ist. Es geht der Frau, so vermutet Alexander, lediglich darum, ihm – oder sich? – das Gefühl zu vermitteln, es handle sich hier um eine Transaktion zwischen gleichberechtigten Partnern, was natürlich nicht im Mindesten zutrifft. Nichts ist offensichtlicher als ihre Ungleichheit – eine Ungleichheit, die, so viel ist ihm klar, letztlich auf nichts anderem beruht als auf ein paar – obendrein gestohlenen – Banknoten.
    Deshalb, oder vielleicht auch, weil der Hunger ihn allmählich kribbelig macht, wird Alexander beschließen, das Ritual abzukürzen und der Frau das Geld in die Hand zu drücken – und wird es dann doch nicht tun, sondern abwarten, bis sie mit umständlicher Sorgfalt einen – von insgesamt drei – Obstbechern auswählt, drei – von insgesamt sechs – Tortillas auf einen Pappteller schiebt und mit leerem Blick ihre unsichtbaren Zahlen zusammenrechnet; er wird ihre dunklen, an den Innenseiten jedoch kindlich rosigen Hände betrachten, ihr schmales, strenges, von einem rauchblauen Tuch umhülltes Gesicht, und wird sich fragen, wie alt die Frau ist: fünfzig? Dreißig? Wie hoch ist eigentlich die Lebenserwartung in Mexiko? Besser gefragt: Wie hoch ist eigentlich die Lebenserwartung einer Frau aus der mexikanischen Unterschicht?
    Obwohl er vor Unterzuckerung schon ein wenig zu zittern beginnt, wird er abwarten, bis die Frau sich mit langsamen, vom Sand gebremsten Schritten entfernt hat. Dann wird er das Obst noch einmal gründlich mit Trinkwasser abspülen.
    Er wird alles Obst auf einmal essen. Er wird essen, zitternd vor Gier, und wird es, wenn er seine vom süßen Obst klebrigen, wie zum Schwur erhobenen Finger betrachtet, nicht vermeiden können, an Kurt zu denken, der irgendwo auf der anderes Seite der
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