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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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interessiert.« Müde Zuneigung lag in ihrer Stimme. »Ich werde nie vergessen, wie du damals mit dem Morgenmantel in der Hose mitten in der Nacht zum Kirchanger rausgeschlichen bist.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Selbstmörder werden nicht auf dem Friedhof beerdigt.«
    Ich musste sie fragen. Jetzt oder nie. »Wie gut hast du Nicholas gekannt?« Ich sah sie nicht an.
    »Gar nicht«, erwiderte Mum. »Ich bin erst nach Witching gezogen, als er schon tot war. Ich kannte nur David, seinen Vater.«
    Nach jedem Satz machte sie eine Pause. Nach dem letzten zog sich die Stille in die Länge. Die anderen Trauergäste hatten sich alle im Gemeindesaal versammelt, um miserable Sandwiches zu essen. Bestimmt antwortete Johnny mit argwöhnischer Einsilbigkeit auf Fragen nach der Army. Ein tückischer Windstoß brachte Mutters blondes ergrauendes Haar durcheinander; er schien durch sie hindurchzuwehen, ohne dass sie etwas davon merkte. Echtes Friedhofswetter, obwohl eigentlich jeder Wintertag Witching diese Kälte aus Sibirien bescherte: wie ein Pfeil, der zielstrebig über die Nordsee und das Flachland von East Anglia flog.
    »Es gab so ein Gerücht. Nicholas und Richard – die Hirst-Zwillinge – sollen sich wegen einer Frau gestritten haben, und Richard dachte hinterher, dass er schuld am Tod seines Bruders ist«, fuhr Mum schließlich fort. »Jedenfalls ist Richard nach Australien ausgewandert, weil er es hier nicht mehr ausgehalten hat. Sein Vater war mit einem Schlag allein, weil seine beiden Söhne einfach verschwunden waren. Der eine auf die andere Seite der Welt, der andere …« Sie fing an zu zittern, als würde ihr die Kälte nun doch zu schaffen machen.
    »Und wie hast du den Vater kennengelernt?« Ich schielte kurz auf IHR GATTE DAVID .
    »Er ist immer in die Bibliothek gekommen. Ich hatte gerade dort angefangen, und er war freundlich zu mir, im Gegensatz zu etlichen anderen. Nach einiger Zeit habe ich dann öfter bei ihm vorbeigeschaut, um ihm beim Kochen und Saubermachen zu helfen«, berichtete Mum. »Er war ziemlich am Boden, verstehst du.« Plötzlich hatte sie genug von dem Thema und zog die Jacke enger um sich. »Meine Güte, jetzt tratschen wir schon bei einer Beerdigung. Gehen wir doch rein.«
    Ich folgte ihr in den Gemeindesaal, wo Dad sich gerade mit seinem Bruder Frank unterhielt, denen zum ersten Mal in ihrem Leben der Dritte im Bunde fehlte. In den letzten fünf Minuten hatte Mum mehr über die Familie Hirst erzählt, als ich je zuvor aus ihr herausbekommen hatte und je wieder von ihr erfahren sollte. Im Nachhinein hatte ich das Gefühl, dass ich vielleicht zu wenig in sie gedrungen war; erst als es zu spät war, fand ich heraus, dass manche Gespräche ewig hinausgeschoben und manche Themen nie wieder angeschnitten werden, auch wenn man noch so lange darauf gewartet hat. Die Tür fällt zu und bleibt für immer verschlossen.
    Trotzdem weckte diese Unterhaltung, die dank der düsteren Umstände und Reserviertheit meiner Mutter die Atmosphäre eines Fernsehkrimis gehabt hatte, meine Lust auf eine forensische Suche nach den Fakten, die Nicholas Hirst in den Selbstmord getrieben und ihm so den Zugang zum Friedhof von Witching verwehrt hatten. Angesichts des übersinnlichen Ballasts der Gemeinde wurde ich den Verdacht nicht los, dass die Diagnose Wahnsinn, die Nicholas posthum gestellt worden war, seinem Andenken nicht gerecht wurde und lediglich dafür gesorgt hatte, dass der Ort an seinem muffigen, altmodischen Anspruch auf einen Fluch festhalten konnte. In den Jahren bei der Zeitschrift hatte ich gelernt, dass Wahnsinn ein sinnloses Wort war. Das 20. Jahrhundert hatte gezeigt, dass die ganze Welt verrückt war; für die Art, wie einzelne Menschen zerbrachen, musste nach detaillierteren Erklärungen geforscht werden. Kaum hatte Dad eine kleine Gruppe ausgewählter Verwandter von der Beerdigung seines Bruders zu uns gebracht und sie ins Wohnzimmer gebeten, wo sie der Plattenspieler mit dem leisen Genöle Bob Dylans empfing, machte ich mich daran, so viel wie nur möglich über die Hirst-Tragödie herauszufinden.
    Allerdings erwies sich diese Aufgabe als frustrierend. Zwar erinnerten sich mehrere Einheimische noch an die Familie – David Hirst, seine Frau Mary, die früh verstorben war, und die Zwillingssöhne Richard und Nicholas –, doch diejenigen, die alt genug dafür waren, hatten anscheinend nur noch Bilder der Familie in ihrem kompletten, zufriedenen Zustand im Kopf und reagierten
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