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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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Unterstellung. »Deine Mutter würde sich über nichts so sehr freuen wie über deinen beruflichen Erfolg. Sie kann einfach Richards Mum nicht ausstehen, deswegen mag sie es nicht, wenn du so daherredest.« Mrs. Aloisi war gerade in einer landesweit ausgestrahlten Kochsendung aufgetreten, erklärte er. Seitdem war Mum schlechter Laune und hatte sogar erklärt, dass sie nicht verstand, warum wir überhaupt einen Fernsehapparat angeschafft hatten.
    »Sagst du nicht immer, dass es für nichts nur einen einzigen Grund gibt?«
    »Verlass dich nie auf das, was ich sage«, mahnte Dad. »Ich bin Polizist!« Wir lachten, bis er husten musste. Als sie zurückkam, entschuldigte sich Mum für ihren Ausbruch und brachte ihm ein Glas Wasser.
    Der Zeitpunkt meiner Abreise in die Staaten näherte sich, und ich wurde immer nervöser, doch so eine Chance konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Witching war scheintot wie eh und je – Mr. Paulson (der, wie wir später erfuhren, tatsächlich mit Mrs. Kean geschlafen hatte) wurde durch einen freundlichen Herrn über siebzig ersetzt, die Geister verharrten in ihren Gräbern, das Telefon im Polizeirevier blieb so lange stumm, dass Dad im Scherz überlegte, es abzumelden, um Geld zu sparen –, und ich musste fürchten, an Ort und Stelle festzuwachsen, wenn ich nicht die Flucht ergriff. Dass mich Richard nun zum ersten Mal auch offiziell überholen sollte, hatte schließlich auch eine positive Seite für mich. »In Harvard wird er gewaltig unter Druck stehen«, meinte Dad drei Tage vor dem Abflug. »Die Studenten dort werden hart rangenommen, die sind berühmt dafür. Und seine Eltern erwarten so viel von ihm. Bin mir nicht sicher, ob ihm das alles so leichtfällt, wie Mr. Aloisi sich das vorstellt.«
    Doch es fiel ihm leicht. Ein Jahr nach seinem Abschluss mit Auszeichnung arbeitete Richard in einer führenden psychiatrischen Einrichtung; mit fünfundzwanzig saß er hinter dem Schreibtisch seiner eigenen New Yorker Praxis, in einem Büro, das so nah am Puls des Geschehens war, dass er durchs Fenster seine wohlhabenden Klienten beim Joggen im Central Park beobachten konnte. Wie immer war er genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort aufgetaucht. Mittlerweile war die Psychiatrie praktisch ein verlängerter Arm der Unterhaltungsindustrie geworden, und der Kult der Selbstanalyse hatte Manhattan zu einem Paradies für Therapeuten gemacht. Ein Wall-Street-Banker, der keine Mittagsreservierung in einem Restaurant hatte, bemühte sich stattdessen um einen Termin beim Psychiater. Reichere Sorgenwälzer, die an der Spitze der Bewegung bleiben wollten, beschäftigten ganze Scharen von Analytikern: Einer von Richards Klienten suchte nach jeder Tagesmahlzeit (einschließlich Brunch) einen anderen Seelenklempner auf und hatte jeweils eigene Spezialisten für Gespräche über Probleme mit seinen Kleidern, seinen Haustieren und die Beziehung zu den anderen Spezialisten. Es war so weit gekommen, dass es als alarmierendes Signal galt, wenn jemand keinen Therapeuten hatte. Es gab zwei Arten von Menschen, so ein damals gängiger Witz: diejenigen, die die Augen vor der Wahrheit verschlossen, und diejenigen, die leugneten, dass sie die Augen vor der Wahrheit verschlossen.
    Dank seines kompromisslosen Arbeitseifers konnte Richard in diesem therapiehungrigen Klima gar nicht anders, als zur Sensation zu werden. Als er Mitte zwanzig war – ich hatte inzwischen eine Stelle bei einem bescheidenen Psychiatriejournal gefunden –, hatte sich ein stetiger Strom von Versicherungsfachleuten, Anwälten und anderen akademischen Faulenzern dafür entschieden, sich statt in ein Dampfbad oder auf eine Sonnenbank bei ihm auf die Couch zu legen. 1976 wurde er in der New York Times als einer der erfolgreichsten Männer der Stadt unter dreißig angeführt 2 ; weniger offizielle Umfragen ließen darauf schließen, dass er auch zu den beliebtesten und sexuell erfülltesten gehörte. Wenn wir telefonierten, bildeten Gläsergeklirr und elegantes Großstadtlachen den Hintergrund für seine wilden, aber wahren Geschichten über die Beschwerden und die Behandlung Prominenter. Als Gegenleistung konnte ich nur im kargen Vorrat von Anekdoten über mein Leben beim Michigan Psychiatric Journal kramen. Unsere Telefongespräche waren wie der Austausch zwischen verschiedenen Planeten.
    Sicherlich lässt sich aus der Sicht unserer mittleren Jahre nicht leugnen, dass Richard mühelos jedes von ihm selbst und von anderen gesteckte
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