Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
Vom Netzwerk:
dass der einzige Ausweg das Warten aufs Tageslicht ist.
    » Was gibt’s da zu lachen? «, brach es plötzlich aus Paulson hervor, und alle verstummten, noch ehe das letzte Wort verklungen war. Er wandte der Klasse den Rücken zu und schrieb etwas an die Tafel, während hinter ihm niemand es wagte, auch nur Blicke zu tauschen. Schließlich trat er beiseite, damit wir die dürren Großbuchstaben lesen konnten: SCHICKSALSRAD .
    »Gerade habt ihr erlebt, wie das Schicksalsrad funktioniert, eine der tragenden Säulen der antiken Tragödie. Am Anfang ist der Held …«, Paulson deutete auf Richard, »ganz oben auf dem Rad und glaubt, dass er dort immer bleiben wird. Der Pöbel, die Öffentlichkeit, glaubt das Gleiche. Doch dann beginnt das Rad sich zu drehen und zieht ihn hinab, immer tiefer hinab, und der Pöbel …«, mit ausladender Geste deutete er verächtlich auf uns alle – allerdings empfand ich es als ungerecht, dass er auch mich einschloss –, »der Pöbel wendet sich so eifrig gegen den Helden, wie er ihm einst zugejubelt hat. ›Man soll niemanden vor seinem Tod glücklich nennen‹, haben die alten Griechen gesagt.«
    Nach einer Pause griff Paulson den Faden wieder auf. »Wir haben uns schon mit einer Reihe von Stücken befasst, die nach diesem Schema laufen. Ich hoffe, dank dieser Lektion habt ihr jetzt eine klarere Vorstellung davon, worum es in diesen Dramen geht. Und für dich, Richard, ist es schon mal eine gute Übung für die Viertelstunde Ruhm, die du erwarten kannst.« Sein Ton klang mild, als würde er meinem Freund einen Ölzweig anbieten, doch er war versetzt mit dem instinktiven Neid des fortschreitenden Alters. »Alle anderen können sich auf das Gegenteil von Ruhm einstellen: Versagen.«
    Kaum hatte Paulson diese Perle der Ermutigung von sich gegeben, als die Schulglocke läutete. Dieses perfekte Timing bestärkte uns in dem Verdacht, dass er seine Schulstunden einübte wie einen Theaterauftritt. Er zündete sich eine große Zigarre an und entließ sein Publikum.
    Später schwor Richard – und tut es noch bis auf den heutigen Tag –, dass er den Zweck von Paulsons Attacke sofort durchschaut und aus pädagogischen Gründen mitgespielt habe. »Ich habe bestimmt nichts zu verbergen«, resümierte er, und die Schar seiner Zuhörer stimmte ihm hastig zu. Wer über ihn gelacht hatte, bedauerte bereits seinen Wankelmut wie ein Mensch, der sich hämisch über den Fall eines wiedererstarkten Anführers gefreut hat. Mr. Aloisi hingegen sah die Sache ganz anders; seine Begeisterung für Paulsons schauspielerischen Künste schien stark nachgelassen zu haben, als er am Abend mit meinem Vater telefonierte. Meine Mutter erschrak immer vom Schrillen des Apparats, und die reservierte Polizistenart, mit der Dad Gespräche entgegennahm, trug wenig zu ihrer Beruhigung bei.
    »Kristal, wer spricht da?«
    Bei dieser Gelegenheit ging es nicht um Bratenrezepte. Fast eine Viertelstunde lang schrie und schimpfte Mr. Aloisi auf meinen Vater ein und verlangte eine strafrechtliche Ermittlung gegen Paulson. Mit ähnlichen Forderungen wandte er sich an den Leiter des Schulbeirats und sogar (so wurde gemunkelt) an den Bildungsminister in London. Wie viele Menschen, die zu Überreaktionen neigen, erreichte Aloisi meistens, was er wollte. Schon nach einer Woche erschien an unserer Schule der Psychologe zu einer Reihe »inoffizieller« Gespräche mit Schülern aus unserer Klasse.
    Das war, wie bereits erwähnt, der Ausgangspunkt für mein Interesse daran, wie der menschliche Geist funktioniert, wie Dinge geschehen und wie sie weitere Ereignisse auslösen und so weiter bis ins Unendliche, und dieses Interesse sollte zu einer der prägenden Kräfte meines Lebens werden. Der Psychologe faszinierte mich nicht nur mit den befriedigend vielsagenden Fragen, die er stellte (»Hat Mr. Paulson jemals außerhalb des Unterrichts mit dir gesprochen?«), sondern auch mit der analytischen Besonnenheit seines Benehmens. Sein mageres, glatt rasiertes Gesicht hinterließ zugleich den Eindruck von absoluter Aufmerksamkeit und routinierter Distanz, als besäße er die Fähigkeit, sich mit seinen beiden Gehirnhälften zwei voneinander unabhängigen Aufgaben zu widmen, wie ein Onkel von Richard, der mit den beiden Händen gleichzeitig Lateinisch und Griechisch schreiben konnte. Sicherlich saß er nicht nur bei meiner Befragung äußerlich ungerührt da, sondern auch bei den tränenreichen Erinnerungen der überempfindlichen Jennifer O’Hara und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher