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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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bezichtigt wurden, den Teufel beschworen zu haben, wurden nackt ausgezogen und auf dem Kirchanger verbrannt vor einer gewaltigen Schar von »Menschen, die sich vor Aufregung fast gegenseitig zu Tode trampelten«. Die Frauen beteuerten, dass der Teufel sie nie heimgesucht hatte – nach einem Blick auf den Ort zog er zwanzig Meilen weiter nach Cambridge, so ein beliebter Scherz in der Gegend –, und es hieß, dass sie mit ihren letzten Atemzügen einen schrecklichen Fluch über die Stadt verhängten, um sich für das ihnen widerfahrene Unrecht zu rächen. Allerdings sprach in der Zeit meines Aufwachsens herzlich wenig dafür, dass ein solcher Fluch tatsächlich existierte.
    Keine grausigen Schreie gellten durch die tiefe Nacht; keine geheimnisvolle Seuche brach im Herzen der Gemeinde aus; ein Fernsehteam, das ein Gespenst auf Film bannen wollte, musste sich mit einem lakenumhüllten Tontechniker begnügen. Einmal, an einem Jahrestag der Hexenhinrichtung, schlichen Richard und ich uns um Mitternacht unbemerkt hinaus – mit pochendem Herzen kroch ich über die dritte Stufe von oben, die bei der sanftesten Berührung ein Knarren von sich gab wie die Tür aus einem Horrorfilm – und machten uns auf den Weg zum Kirchanger, dem Treffpunkt aller verstörten Geister der Stadt. Ins Gras hatte sich ein großer, unauslöschlicher rotbrauner Fleck gebrannt, den nach der Legende die Tieropfer der Hexen hinterlassen hatten. Noch immer wurde diese Stelle von Müttern mit Kinderwagen und älteren Paaren auf dem Weg zum Bingo gemieden. Doch der einzige Lohn für unseren kühn ausgeführten Plan war der Anblick eines zusammengesunkenen Säufers am niedrigen Zaun und zweier schattenhafter Gestalten, die sich im Halbdunkel begrapschten. Als ich ein Jahr später eine Wiederholung unserer Expedition vorschlug, teilte mir Richard herablassend mit, dass böse Geister reine Hirngespinste waren, und berief sich dabei auf Die Kinderfibel Skepsis , die ihm seine Eltern zu Weihnachten geschenkt hatten.
    Der einzige Vorfall, den man mit viel Fantasie auf den Fluch zurückführen konnte, war der Selbstmord des jungen Sohns eines Malers und Tapezierers im Jahr 1949. Abergläubische Einheimische behaupteten, Nicholas Hirst sei mit einem hässlichen Muttermal in der Form des Hexenflecks auf dem Anger geboren und von den Stimmen der verbrannten Frauen in den Wahnsinn getrieben worden. Dieser traurige Todesfall hatte sich zwar über zweihundertfünfzig Jahre nach der Hexenjagd ereignet, was selbst nach örtlichen Maßstäben eine lange Wartezeit für die Erfüllung eines Fluchs war, doch die Nähe zu meiner eigenen Ära stachelte meine Neugier an. Meine Mutter hatte die Hirsts gekannt, und ich löcherte sie mit Fragen nach Nicholas: Hatte er wirklich Stimmen gehört, war er wirklich verrückt geworden? Aber sie weigerte sich, darüber zu reden, eigentlich (so mein damaliger Eindruck) wie bei den meisten verheißungsvollen Gesprächsthemen. So musste ich mich bei meiner Suche nach Dramatik mit den banalen Krisen begnügen, die auf dem Schreibtisch meines Vaters landeten und jeweils mit enttäuschender Leichtigkeit und Schnelligkeit gelöst wurden. »Der einzige Fluch dieses Orts ist die Idee, dass er verflucht ist«, lautete Dads Fazit. Daher erfüllte es mich mit klammheimlicher Freude, als erste Symptome andeuteten, dass die Exzentrizität meines Englischlehrers in Wahnsinn umzuschlagen begann.
    Geplagt von Rückenschmerzen, die ihn zu heftigen Ausbrüchen provozierten, war Paulson mit seinen eins fünfundachtzig ein Koloss, zu dem die Jungen voller Ehrfurcht aufblickten und den die Mädchen mit einer Mischung aus Angst und Hass betrachteten. Obwohl er erst fünfundvierzig war, schien er ein langes Leben voller Stürme hinter seinen harten, tiefen Augen aufzubewahren, deren dauerhafte dunkle Ringe den Eindruck erweckten, dass er mindestens schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr gut geschlafen hatte. Seine Unterrichtsstunden standen von Anfang an ganz im Zeichen seines unberechenbaren Temperaments. An seinem ersten Tag in der Schule warf er einen schlecht geschriebenen Aufsatz einfach zum Fenster hinaus, und selbst ich (ein gewissenhafter, solider Schüler) musste mir nach einer missratenen Rechtschreibprüfung laut geäußerte Zweifel an meiner Herkunft anhören. Doch erst als er bei der Schulaufführung zu kurz kam, vollzog sich ein gefährlicher Wandel in ihm.
    Die Verantwortung für die jährliche Theateraufführung hatte traditionell der
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