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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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der gewissenhaft ausgewogenen Aussage Richards. Wenn er beim Frühstück in unserem Haus Milch auf sein Jackett kleckerte, wirkte es wie Absicht; wenn er mir eine Frage nach Sport stellte, mutmaßte ich, dass er stillschweigend meine Tauglichkeit für den Wehrdienst prüfte. Nach einer trockenen Bemerkung Dads über den Fluch von Witching stieß er ein knappes, sarkastisches Lachen aus, und ich schämte mich, jemals in der Nacht nach Hexen gesucht zu haben.
    Vor dieser realen Begegnung hatte ich unter einem Psychologen ein Karikaturbild verstanden, das weit verbreitet war: ein sadistischer Weißkittel, der Stromstöße durch Depressive jagte; der symbolische Gefangenenaufseher, der in Filmen auftrat, um den geschlagenen Helden in eine Gummizelle zu verfrachten. Dieser Mann jedoch war kein wahnsinniger Wissenschaftler, sondern – ein anderes Wort gab es dafür nicht – ein Detektiv. Ich sehnte mich danach, ihn zu fragen, wie er den Gipfel der Weisheit erklommen hatte, von dem aus er Paulson nach fünftägiger Untersuchung die Fähigkeit zur Ausübung des Lehrberufs absprach. Doch obwohl er abends lange mit Dad zusammensaß, um zu rauchen, Fälle zu diskutieren und einmal sogar Dads Bob-Dylan-Platten anzuhören – die beiden kamen wirklich blendend miteinander aus –, war der Gedanke, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, so weit von mir entfernt wie der an einen Plausch mit Sherlock Holmes.
    Am letzten Abend vor der Abreise des Psychologen nach London war Richard im Haus, um bei mir zu übernachten. Zwar hatten wir die ganze Woche über in ehrfurchtsvollen Tönen über den Besucher geredet, doch jetzt wirkte Richard völlig unbeeindruckt von der Gegenwart des Mannes. Dann, gegen Ende des Abendessens erkundigte er sich mit der besonderen Stimme, die er benutzte, um wichtige Erwachsene anzusprechen: »Wie muss man es eigentlich anstellen, dass man Psychologe wird? Was für Fähigkeiten braucht man dazu?«
    Der silberhaarige Gedankenleser lächelte leise (was ich an ihm noch nie bemerkt hatte) und antwortete ohne Zögern, als hätte er schon seit seiner Ankunft auf diese Frage gewartet.
    »Also, beruflich hilft es, in die Staaten zu gehen«, erklärte er Richard, und obwohl ich neben ihm saß, hatte ich das Gefühl, eine nicht für mich bestimmte Unterhaltung zu belauschen, während mein Freund feierlich nickte. »Da gibt es die beste Ausbildung und auf jeden Fall die meisten Möglichkeiten zum Praktizieren. Ich hatte das Glück, dort studieren zu können, als das noch die große Ausnahme war. Heutzutage ist es nicht mehr so selten.«
    In den nächsten zehn Sekunden wurden mir mehrere Dinge klar:
Richard hatte bereits den gleichen Wunsch gefasst wie ich.
Mit seinen schulischen Leistungen und einer Familie, die ihn nicht nur unterstützte, sondern ihn praktisch auf Händen in nützliche Nischen trug, hatte er viel bessere Chancen, ihn sich zu erfüllen.
Wenn es mir nicht gelang, dem bereits bestehenden Trend und der Wahrscheinlichkeit die Stirn zu bieten, würde ich ihm bis ans Lebensende einen Schritt hinterherhinken.
    »Was die Fähigkeiten betrifft«, fuhr der Guru fort, »musst du dich nur dafür interessieren, was im Kopf der Leute abläuft. Denk einfach an Ursache und Wirkung. Geh den Sachen bis zu den Wurzeln nach. Das ist in jedem Fall eine nützliche Angewohnheit.«
    Dad, der diese Angewohnheit schon lange hatte, nickte zustimmend. Über seine Polizeiarbeit sagte er gern, dass es für nichts nur einen einzigen Grund gab, und nach dem Besuch des Psychologen machte er sich die Phrase »Ursache und Wirkung« zu eigen. Ich erkannte, dass diese Worte ebenso weitreichende Konsequenzen für Richard haben würden wie für mich; seine Aufmerksamkeit war erwacht, ebenso wie meine. Bis zur Bewerbung um einen Studienplatz waren es noch drei Jahre, und das Rennen lief.
    An dem Tag, als Richard seine Absicht erklärte, Psychologe zu werden, kauften ihm seine Eltern acht Bücher zum Thema – unter anderem ein vom Autor signiertes Exemplar des grundlegenden Werks Verstehen verstehen –, und Mr. Aloisi sprach mit Freunden auf der anderen Seite des Atlantiks, von denen er erfuhr, dass der wohl beste Studiengang für Psychologie in Harvard angeboten wurde. Diese Freunde berichteten auch von den ersten Regungen der späteren Therapiekultur in den USA : Psychologen verdienten großes Geld damit, dass sie ihre Fähigkeiten in die neue Kunst der Werbung einbrachten und den schnellsten Weg in den Kopf und die Brieftaschen der
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