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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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– er hatte den amerikanischen Akzent angenommen, so wie andere die US -Staatsbürgerschaft annahmen –, und allmählich hatte ich Mühe, die Glattheit des Gesichts und der Stimme auf dem kleinen Bildschirm mit meinem früheren Klassenkameraden an einer Schule in Cambridgeshire in Verbindung zu bringen. Doch als Simon Stacy, der eine sehr konkurrenzbetonte Einstellung hatte, Richard wegen seines selbstzufriedenen Auftritts auf CNN kritisierte, sah ich mich veranlasst, ihn zu verteidigen wie ein Mitglied meiner Familie.
    »Ich kenne ihn schon von Kindesbeinen an«, erklärte ich.
    »Er stammt auch aus England?«, fragte Simon ungläubig.
    »Wir sind zusammen aufgewachsen.«
    »War er schon immer so ein Weichei?« Simon trank sein Glas leer.
    Ich war mir nicht sicher, ob Weichei als sexuelle Beleidigung gemeint war – die Feinheiten der Yankee-Sprache erschlossen sich mir nur langsam, obwohl ich so viele Filme wie nur möglich ansah –, doch das spielte gar keine Rolle. Die Zeiten von Paulsons seltsamer Attacke waren längst vergessen. Richard behauptete, sich kaum an den Vorfall zu erinnern, als ich ihn einmal erwähnte. Inzwischen wurde er häufig Arm in Arm mit New Yorker Laufstegmodels fotografiert, und bei jedem meiner Anrufe meldete sich eine andere Frau.
    Doch genau das war im Grunde der Auslöser meines Unbehagens. Als der Kontakt zu Richard immer sporadischer wurde, kam ich zu der Einsicht, dass ich mich, was Gesellschaft und Konkurrenz anging, mehr als ein Jahrzehnt lang auf ihn verlassen hatte. Und jetzt, da er weit entfernt lebte und beruflich außer Reichweite für mich war, musste ich die Karte meines Lebens neu zeichnen und mir überlegen, was mich eigentlich interessierte. Das Journal brachte eine Artikelreihe über das Übersinnliche, und ich beschloss, einen Beitrag über das Verhältnis der Einwohner von Witching zu ihrem angeblichen Fluch zu schreiben. Ich wollte mir und anderen beweisen, dass es zwischen der Hermetik der psychiatrischen Fachpresse und dem Prominentengefunkel der New Yorker Szene ein Terrain gab, das ich für mich erschließen konnte, um den Menschen die erklärbaren Ursachen für unerklärliches Verhalten nahezubringen.
    Die Idee zu dem Witching-Artikel kam mir Ende 1977, als sich mein Weihnachtsaufenthalt durch den Tod von Dads Bruder Tom Anfang Dezember auf einen Monat verlängerte. Er starb während eines Besuchs bei meinen Eltern und wurde in Witching begraben, weil Dad die Organisation der Trauerfeierlichkeiten in die Hand nahm. Zwar werden die meisten Menschen, die zum ersten Mal einer Beerdigung beiwohnen, an ihre Sterblichkeit erinnert, doch Toms Bestattung war wirklich besonders verstörend: Nicht nur die vom Alter gedrückten Gäste, sondern der ganze Ort schien kurz vor dem Ableben. Der berühmte Fleck auf dem Kirchanger wirkte nicht größer als der Bluterguss nach einer kleinen Injektion. Der Sarg mit dem Mann, von dem ich gelernt hatte, mir Pingpongbälle in den Mund zu stopfen, wurde von einem Quartett ausgezehrter Gestalten getragen, von denen jede aussah, als könnte sie der Passagier sein; eine von ihnen, so erkannte ich mit einem Schauder, war Dad. Mein Cousin Johnny, der als kurzbeiniger Junge bei seinem ersten Weihnachten in unserem Haus die ganze Nacht geweint und sich erst beruhigt hatte, als ich zu ihm ins Bett schlüpfte, war inzwischen Corporal bei der Army und nahm mit grimmig militärischem Stolz an der letzten Ruhestätte seines Vaters Abschied von ihm. Während ich in dieser vorhersehbaren Weise über die Vergänglichkeit nachsann, fiel mein Blick auf einen schlichten Stein mit dem Namen MARY HIRST und der später hinzugefügten, ebenfalls schon stark verwitterten Inschrift IHR GATTE DAVID . Nichts Erhabenes oder Zärtliches wie auf den anderen Gräbern – kein UNSER GELIEBTER , kein DEM HERZEN NAH – und, wichtiger noch, keine Spur von ihrem Sohn Nicholas, dem selbstmörderischen Opfer des Witching-Fluchs.
    »Er ist nicht hier beerdigt«, sagte jemand direkt hinter mir.
    Schuldbewusst wie ein Grabräuber zuckte ich zusammen und drehte mich um. Die sanften Augen der immer fremder werdenden Sängerin in unserem Bad waren auf mich gerichtet. Sie wirkten amüsiert.
    »Wer?«
    »Ihr Sohn. Nach dem hast du doch Ausschau gehalten, oder?« Mum sah zu mir auf und dachte offenbar darüber nach, wie groß ich inzwischen war und wie die Zeit verging.
    »Wie kommst du darauf?«, fragte ich kleinlaut.
    »Du hast dich immer für die merkwürdigsten Sachen
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