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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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abwehrend auf Fragen nach den Motiven für Nicholas’ Selbstmord. Jeder Zweifel an der Hexenfluchtheorie wurde als Beleidigung der Stadt aufgefasst. Dazu kam, dass Nicholas sich nicht in Witching getötet hatte, sondern in Cambridge. Das hieß, dass die Einheimischen ausgerechnet über den Teil der Geschichte am wenigsten wussten, der mich am meisten interessierte. Zeit, Aberglaube und Kurzsichtigkeit hatten sich dazu verschworen, Nicholas Hirsts Spuren zu verwischen.
    Doch wenigstens waren sie nur verwischt und nicht völlig verschwunden. So gelang es mir, aus den entlegenen Winkeln gealterter Gedächtnisse einzelne Bruchstücke zu bergen: Nicholas’ Bruder war ein hervorragender Sportler gewesen und vielseitig begabt; die beiden hatten sich nahe-, aber auch in Konkurrenz zueinander gestanden. In Lokalzeitungen, Schul- und Universitätsurkunden konnte ich noch mehr ausgraben. Ein Angestellter des Forschungslabors, in dem die Zwillinge Anfang der Vierziger gearbeitet hatten, half mir vor allem bei dem Thema des angeblichen Streits um eine Frau weiter; leider hatte er die Betreffende nicht gekannt und nach Richards Auswanderung nach Australien auch den Kontakt zu ihm verloren – wie anscheinend alle anderen auch.
    Als ich nach Michigan zurückflog, hatte ich genug Hinweise für die Vermutung zusammengetragen, dass Nicholas zum Zeitpunkt seines Selbstmords an einer Depression litt, die auf erkennbare Ursachen zurückzuführen war. Doch das Material war ein einziges Durcheinander. Vieles beruhte auf Spekulation oder Hörensagen; die ganze Geschichte war ein wirrer Haufen aus Zeitungsausschnitten, Notizen und aufgenommenen oder erinnerten Gesprächen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie ausarbeiten konnte und warum sie von Interesse sein sollten, falls ich es tat.
    Einmal mehr ging die Inspiration auf mittelbare Weise von Richard Aloisi aus. Seit den ersten Tagen in Harvard hatte er bei unseren Unterhaltungen immer wieder die Namen berühmter Psychiater und Theoretiker der Vergangenheit und Gegenwart erwähnt, die mir aufgrund der eher praktischen Ausrichtung meines Studiengangs nicht vertrauter waren als ausländische Filmstars. Und weil ich noch immer die Hoffnung hegte, Richard eines Tages einholen oder mich ihm zumindest auf Sichtweite nähern zu können, verlegte ich mich in meiner Freizeit darauf, möglichst viele Standardwerke querzulesen. Dafür benötigte ich Abkürzungen, und bald griff ich bevorzugt nach einer Reihe mit dem Titel Alles Wissenswerte über … , die überschaubare, leicht verständliche Studien bot. Eine Besonderheit dieser Leitfäden waren ihre umfassenden Register, die in der komprimiertesten möglichen Form eine schnelle Zusammenfassung aller Informationen des Buchs in Stichpunkten enthielten. Bald dämmerte mir, wie sicherlich schon so manchen Studenten und Resümeebedürftigen vor mir, dass ich, um eine Kurzversion zum Leben eines Menschen zu erhalten, nur den Registereintrag des Betreffenden in seiner Biografie nachschlagen musste. In Alles Wissenswerte über Virginia Woolf , das ich las, weil ich bei Diskussionen über Freud des Öfteren Vertrautheit mit Zum Leuchtturm heucheln musste, fand ich zum Beispiel Folgendes:
    Woolf, Virginia
Geburt, 18
Aussehen als Baby, 26
Entschluss als Kind, Schriftstellerin zu werden, 29
    Und so weiter, über die prägenden Erfahrungen:
sexuelle Frigidität, 23, 37-39, 70
Erfahrungen mit der Verrücktheit anderer, 51
anhaltende psychologische Auswirkungen von
    Krankheit und Tod des Vaters, 72
    Tod des Bruders Thoby, 94
    Bis schließlich unweigerlich zu:
Selbstmordgedanken, 220
letzter Brief an Leonard, 226
Tod, 227
    Nach der Durchsicht dieser Stichpunktzeilen war ich so bewegt, als hätte ich gewissenhaft die in ihnen zusammengefasste Geschichte gelesen. Trotz aller Komplexität der Einzelschicksale ließ sich auch das bemerkenswerteste Leben auf eine einfache Formel bringen:
Geburt, 1
verschiedene Leistungen, 2−x
Tod, x+1
    Durch Nachschlagen in den jeweiligen Biografien mauserte ich mich zum Scheinexperten für das Leben von Freud, Jung, Wittgenstein, Nietzsche, David Hume und (zur Abwechslung) Walt Disney. Mit skeptischem Amüsement registrierten Bibliothekare, wie ich ganze Stapel von Bänden der Reihe Alles Wissenswerte über … auslieh und am nächsten Morgen zurückbrachte. Zwar ließen die hypereffizienten Abrisse in Stichpunktform gelegentlich Raum für Verwechslungen (beispielsweise hatte Nietzsche ebenso wie Disney den Eintrag »hält sich
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