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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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Frau zu einem Zerwürfnis zwischen den Zwillingen geführt hatte, ließ auf ein Ereignis schließen, das das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Nicht das bösartige Wirken der unsichtbaren Kräfte von Witching hatte ihn zum Selbstmord getrieben, sondern der Anblick seines Bruders und besten Freundes im Bett mit der Frau, die seinen einzigen Halt darstellte. Mit anderen Worten, Nicholas war ein depressiver, abhängiger Mensch, dem sexuelle Demütigung und brüderlicher Verrat zum Verhängnis wurden. Mit all diesen Elementen konnte das Umfeld der Vierziger- und Fünfzigerjahre wenig anfangen, aber für mich klang diese Geschichte wahr, vor allem, da der Auslöser für Nicholas’ Zusammenbruch, der zugleich Vorbild und Nemesis für ihn war, durch einen merkwürdigen Zufall den Namen Richard trug.
    Wenngleich niemand je meine Version der Ereignisse bekräftigen oder widerlegen konnte – der alte David lag im Friedhof von Witching, Richard war unauffindbar in Australien, und die Freundin war schon vor vielen Jahren von der Bildfläche verschwunden –, hatte ich das Gefühl, dass ich einen kleinen Beitrag geleistet hatte, um Nicholas’ Andenken Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wenn ich meine Erkenntnisse veröffentlichte, würde die Nachwelt ihn vielleicht nicht mehr als Verrückten einordnen, sondern als Opfer; möglicherweise konnte diese Argumentation einen anderen potenziellen Nicholas davon abhalten, den von seinen Lebensumständen vorgezeichneten Weg zu beschreiten. Und ganz abgesehen von diesen idealistischen Motiven, war es einfach etwas völlig Neuartiges für unsere Zeitschrift. Im Aprilheft 1978 erschienen die Hirst-Stichpunkte mit einem äußerst knappen Kommentar, in dem ich meine Überlegungen zu dem Fall präsentierte. Es war mein erster Artikel, aus dem kein einziges Wort gestrichen wurde.
    Mein Abriss zur Geschichte der Hirsts sorgte für ein gewisses Aufsehen und wurde in mehreren Journalen abgedruckt, unter anderem auch in einem New Yorker Fachblatt. Dort fiel er Richard Aloisi auf, der mich anrief und mir dazu gratulierte, unseren Heimatort bekannt gemacht zu haben. Ich bekam sogar einen Anruf von einem britischen Verleger, der die Geschichte für erfunden hielt und sie in eine Anthologie von Avantgardetexten zum Andenken von B.S. Johnson aufnehmen wollte. 6 Dieses Interesse bewog mich dazu, Stichpunkte zum festen Bestandteil meiner Arbeit zu machen. Für jede Nummer der Zeitschrift grub ich einen längst vergessenen Fall aus und reduzierte seine Komplikationen auf eine gedrängte Abfolge von Ursache und Wirkung, um ihn einer Neubewertung zu unterziehen. Dabei wies ich nach, dass dem Betroffenen nach dem Tod häufig zur Vertuschung Wahnsinn bescheinigt worden war und dass Aberglaube und Zimperlichkeit (vor allem im Hinblick auf das große Tabuthema Selbstmord) zu horrenden Ungerechtigkeiten führen konnten. Ich sah meine Aufgabe darin, die Würde von Lebensläufen wiederherzustellen, die andernfalls als gescheitert betrachtet worden wären. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ich der Welt tatsächlich etwas Nützliches zu sagen hatte.
    Was mir jetzt noch fehlte, war das Behandeln eigener Patienten, der Aufstieg von der Verteidigung der Ehre Toter zur Rettung der geistigen Gesundheit Lebender. 1980, als ich dreißig war, bot sich mir eine Chance. Simon Stacy, mein ehemaliger Kollege beim Michigan Psychiatric Journal , arbeitete inzwischen am Lakelands Institute, einer psychotherapeutischen Praxis in Chicago. Er rief mich an, um mir mitzuteilen, dass eine Stelle frei geworden war. All die Jahre meiner vergeblichen Ambitionen zogen in einem Sekundenbruchteil an mir vorbei, als er erklärte, dass er mich empfohlen hatte. Ich konnte es kaum erwarten, mich ins Auto zu setzen.
    Meine Eltern waren natürlich begeistert. Ich schickte ihnen Fotos von meinem Büro, von dem nichtssagenden Sandsteinbau des Instituts, vor dem wie ein Symbol der Vernunft das Sternenbanner wehte, und von dem hoch aufragenden Wohnblock, wo ich im vierten Stock lebte. Manchmal nach einem Tag des Ringens mit den Gefährdeten und Verblendeten bildete ich mir ein, dass ich ganz oben auf dem gewaltigen Gebäude jemanden sah, der verzweifelt über die Lichter der kalten, riesigen Stadt starrte, und dass man mich jeden Moment rufen konnte, um einzugreifen wie der Engel in Ist das Leben nicht schön? (einer von Dads Lieblingsfilmen) und mit den Waffen des gesunden Menschenverstands eine Tragödie zu verhindern.
    Trotz Paulsons
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