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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip
Autoren: Nemesis
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und im Sommercamp erschien ihm nicht wie ein böser Streich der Natur, sondern wie ein großes, von ihm selbst verübtes Verbrechen, das ihm alles genommen und sein Leben zerstört hatte. Das Schuldgefühl, das jemand wie Bucky empfindet, mag absurd erscheinen, ist in Wirklichkeit aber unvermeidlich. Ein solcher Mensch ist verdammt. Nichts, was er tut, reicht an sein Ideal heran. Er weiß nie, wo seine Verantwortlichkeit endet. Er glaubt nicht an seine Grenzen, denn da er mit einem strengen Gefühl für das moralisch Richtige beladen ist, das es ihm nicht erlaubt, sich mit dem Leiden anderer abzufinden, kann er nicht ohne Schuldgefühle anerkennen, dass seiner Kraft Grenzen gesetzt sind. Der größte Triumph eines solchen Menschen ist es, die Frau, die er liebt, vor einem verkrüppelten Ehemann zu bewahren, und sein Heldentum besteht darin, dass er sich, indem er diese Frau aufgibt, die Erfüllung seiner größten Sehnsucht versagt.
    Wäre er nicht vor der Herausforderung auf dem Sportplatz geflohen, hätte er die Jungen von der Chancellor Avenue School nicht wenige Tage, bevor die Sportplätze geschlossen wurden, verlassen - und wäre nicht sein bester Freund im Krieg gefallen -, dann hätte er sich vielleicht nicht so bereitwillig die Schuld an diesen schrecklichen Ereignissen gegeben und wäre nicht einer der Menschen geworden, die von der Zeit zermahlen werden. Wenn er den anderen Weg gewählt hätte, wenn er geblieben wäre und diese kollektive Prüfung der Juden von Weequahic ertragen hätte, ganz gleich, was ihm dabei hätte passieren können, wenn er die Epidemie mannhaft bis zum Schluss durchgestanden hätte...
    Aber vielleicht wäre er ganz unabhängig davon, wo er sich damals aufgehalten hatte, zu seiner Sicht der Dinge gelangt und vielleicht - das können weder ich noch Epidemologen beantworten - sogar zu Recht. Vielleicht irrte er sich nicht. Vielleicht hatten sein Unverständnis und Misstrauen gegen sich selbst seine Gedanken keineswegs getrübt. Vielleicht waren seine Behauptungen gar nicht so unlogisch. Vielleicht hatte er keine falschen Schlüsse gezogen. Vielleicht war er tatsächliche der unsichtbare Pfeil gewesen.
     
    Und doch - damals, mit dreiundzwanzig, war er für uns Jungen das größte Vorbild, die höchste Autorität: ein junger Mann mit Überzeugungen, entspannt, freundlich, fair, taktvoll, stark, umsichtig, belastbar, sanft und ebenso Kamerad wie Anführer. Und nie erschien er uns strahlender als an jenem Nachmittag Ende Juni '44 - kurz bevor die Epidemie über Newark hereinbrach, kurz bevor die Körper und das Leben nicht weniger von uns sich drastisch veränderten -, als wir ihm über die Straße und ein Stück weit den Hügel hinunter zu dem Platz folgten, auf dem die Highschool-Mannschaften trainierten und wo er uns zeigen wollte, wie man einen Speer warf. Er hatte seine eng anliegenden Shorts, ein ärmelloses Trikot und mit Spikes versehene Schuhe angezogen, trug den Speer lässig in der rechten Hand und führte uns an.
    Das Stadion war leer, und er ließ uns auf der Seite, an der die Chancellor Avenue vorbeiführte, entlang der Außenlinie Aufstellung nehmen, und dann durfte jeder den Speer untersuchen und in der Hand wiegen, eine schlanke Metallstange, etwas weniger als ein Kilo schwer und knapp zweieinhalb Meter lang. Mr. Cantor zeigte uns, wie man ihn halten konnte und welchen Griff er bevorzugte. Er erzählte uns von der Geschichte des Speerwerfens: wie es in der Frühzeit der Menschheit begonnen habe, vor der Erfindung von Pfeil und Bogen, als man mit dem Speer auf die Jagd gegangen sei, und dass das Speerwerfen im achten Jahrhundert vor Christus bei den alten Griechen zu den Disziplinen der ersten Olympischen Spiele gehört habe. Der erste Speerwerfer sei Herakles gewesen, der große Krieger und Bezwinger von Ungeheuern, der stärkste Mann der Welt, der Sohn von Zeus, dem höchsten Gott der Griechen. Dann sagte er, er werde sich jetzt aufwärmen. Das dauerte etwa zwanzig Minuten, und einige der Jungen ahmten seine Streckübungen nach. Es sei besonders wichtig, sagte er und ging mit gespreizten Beinen tief in die Knie, die Unterleibsmuskeln zu dehnen, denn dort könne es leicht zu Zerrungen kommen. Bei vielen Übungen setzte er den Speer als Stock ein, etwa indem er ihn sich wie ein Joch auf die Schultern legte und sich beugte und streckte, kniete und hockte, hüpfte und sprang und seinen Oberkörper dabei nach links und rechts drehte. Er machte einen Handstand und beschrieb
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