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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip
Autoren: Nemesis
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gefällt mir nicht, also bring ihn nicht ins Spiel. Er ist zu gemein für meinen Geschmack. Er verbringt zuviel Zeit damit, Kinder zu töten.«
    »Und auch das ist Unsinn! Dass du Polio hast, gibt dir nicht das Recht, lächerliche Dinge zu sagen. Du hast keine Ahnung, was Gott ist! Niemand hat eine Ahnung! Du klingst wie ein Esel, und dabei bist du keiner. Du klingst, als wärst du dumm, und dabei bist du gar nicht dumm. Du klingst, als wärst du verrückt, und dabei bist du gar nicht verrückt. Du warst nie verrückt. Du warst vollkommen gesund. Gesund und stark und intelligent. Aber das hier ...! Du verschmähst meine Liebe, du verschmähst meine Familie - ich weigere mich, bei diesem Wahnsinn mitzumachen!«
    Ihr hartnäckiger Widerstand brach zusammen, und sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Die anderen Patienten, die mit ihren Besuch auf nahegelegenen Bänken saßen oder in Rollstühlen auf dem gepflasterten Weg vor dem Institut vorbeigeschoben wurden, bemerkten die zierliche, hübsche, gut gekleidete junge Frau neben dem Patienten im Rollstuhl, die sichtlich von ihrem Kummer übermannt wurde.
    »Du stellst mich vor ein Rätsel«, sagte sie unter Tränen. »Wenn du doch nur in den Krieg hättest ziehen können, wärst du vielleicht - ach, ich weiß nicht, was du wärst. Du wärst Soldat gewesen und hättest das alles, was immer es ist, vielleicht überwunden. Kannst du denn nicht glauben, dass ich dich liebe, ganz gleich, ob du Polio hast oder nicht? Kannst du nicht verstehen, dass es das Schlimmste wäre, was uns beiden passieren kann, wenn du dich mir entziehen würdest? Ich kann es nicht ertragen, dich zu verlieren - gibt es keine Möglichkeit, dir das begreiflich zu machen? Bucky, dein Leben kann so viel leichter sein, wenn du es nur zulässt. Wie kann ich dich überzeugen, dass wir gemeinsam weitergehen müssen? Du sollst mich nicht vor etwas bewahren, Herrgott. Du sollst nur tun, was du tun wolltest: mich heiraten!«
    Aber er gab nicht nach, so sehr sie auch weinte und so echt ihre Tränen sogar ihm erschienen. »Heirate mich«, sagte sie, und er konnte nur antworten: »Nein, das werde ich dir nicht antun«, und darauf konnte sie nur antworten: »Du tust mir nichts an - ich bin selbst verantwortlich für meine Entscheidungen!« Doch sein Widerstand war nicht zu brechen, nicht wenn seine letzte Gelegenheit, sich als integrer Mann zu erweisen, darin bestand, die tugendhafte junge Frau, die er aufrichtig liebte, davor zu bewahren, sich für den Rest ihres Lebens an einen Krüppel zu binden. Er konnte sich einen Rest seiner Ehre nur bewahren, indem er sich alles versagte, was er je hatte haben wollen - sollte er so schwach sein, seinen Entschluss zu revidieren, würde er seine endgültige Niederlage erleben. Das Wichtigste aber war: Wenn sie nicht bereits jetzt insgeheim erleichtert war, dass er sie zurückwies, wenn sie sich jetzt noch immer von ihrer liebevollen Unschuld - und ihrem in moralischen Dingen unnnachgiebigen Vater - davon abhalten ließ, die Wahrheit zu erkennen, so würde sie später zu einem anderen Urteil kommen, wenn sie eine Familie und ein eigenes Heim hatte, mit glücklichen Kindern und einem Mann, der gesund und unversehrt war. Ja, in nicht allzu ferner Zukunft würde der Tag kommen, da sie ihm dankbar dafür sein würde, dass er sie so unbarmherzig zurückgestoßen hatte. Dann würde sie erkennen, wie viel besser das Leben war, das er ihr gegeben hatte, indem er daraus verschwunden war.
     
    Als er die Geschichte von seiner letzten Begegnung mit Marcia zu Ende erzählt hatte, fragte ich ihn: »Wie verbittert sind Sie eigentlich, Bucky?«
    »Gott hat meine Mutter bei meiner Geburt getötet. Gott hat mir einen Vater gegeben, der ein Dieb war. Gott hat mir Kinderlähmung gegeben, und ich habe sie an mindestens ein Dutzend Kinder weitergegeben, unter anderem an Marcias Schwester. Unter anderem vermutlich an Sie. Unter anderem an Donald Kaplow. Er ist im August 1944 im Krankenhaus von Stroudsburg gestorben, in einer eisernen Lunge. Wie verbittert sollte ich denn sein? Sagen Sie es mir.« Er sagte das mit beißendem Sarkasmus, in demselben Ton, in dem er erklärt hatte, Gott werde eines Tages auch Marcia verraten und ihr ein Messer in den Rücken stoßen.
    »Es steht mir nicht zu, jemanden, der ein Opfer der Polio geworden ist, sei er nun jung oder alt, zu kritisieren, weil er den Schmerz einer unaufhörlichen Behinderung nicht ganz überwinden kann. Natürlich brütet
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