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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip
Autoren: Nemesis
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man über diese Unaufhörlichkeit. Aber im Lauf der Zeit muss etwas hinzukommen. Sie sprechen von Gott. Glauben Sie noch immer an den Gott, den Sie schmähen?«, fragte ich.
    »Ja. Irgendjemand muss das alles ja gemacht haben.«
    »An Gott, den großen Verbrecher«, sagte ich. »Ist es das, woran Sie glauben? Aber wenn Gott der große Verbrecher ist, können Sie nicht ebenfalls der Verbrecher sein.«
    »Wie Sie wollen - es ist ein medizinisches Rätsel. Ich bin ein medizinisches Rätsel«, sagte er und verwirrte mich. Meinte er vielleicht, das Ganze sei ein theologisches Rätsel? War dies seine Laienversion der gnostischen Doktrin, komplett mit einem bösen Demiurgen? Das Göttliche als Feind unserer Existenz? Zugegebenermaßen wog der Beweis seiner eigenen Erfahrungen schwer. Nur eine feindliche Gottheit konnte eine Krankheit wie Kinderlähmung erschaffen. Nur eine feindliche Gottheit konnte jemanden wie Horace erschaffen. Nur eine feindliche Gottheit konnte den Zweiten Weltkrieg erschaffen. Wenn man alles zusammennahm, sprach vieles für die Existenz einer feindlichen Gottheit. Und sie war allmächtig. Buckys Vorstellung von Gott, wie ich sie zu verstehen glaubte, war die von einem allmächtigen Wesen, auf dessen Natur und Absicht man nicht aus zweifelhaften biblischen Quellen, sondern ausschließlich aus unwiderleglichen, im Lauf eines Lebens im zwanzigsten Jahrhundert gesammelten historischen Beweisen schließen durfte. Seine Vorstellung von Gott war die von einem allmächtigen Wesen, das keine Dreifaltigkeit war wie im Christentum, sondern eine Zweifaltigkeit - die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie.
    Für mich als Atheisten war ein solcher Gott nicht lächerlicher als die Götter, an die Milliarden anderer Menschen glaubten, und was Buckys Auflehnung gegen ihn betraf, so fand ich sie absurd, einfach weil dazu gar keine Notwendigkeit bestand. Er konnte nicht akzeptieren, dass die Polioepidemie in Weequahic und Camp Indian Hill eine Tragödie war. Die Tragödie muss in Schuld verwandelt werden. Es muss eine Notwendigkeit geben für das, was geschieht. Eine Epidemie bricht aus, und er sucht nach dem Grund. Er muss fragen: Warum? Warum? Dass das Ganze sinnlos, zufällig, absurd und tragisch ist, stellt ihn nicht zufrieden. Auch nicht, dass die Ursache ein sich stark ausbreitendes Virus ist. Er forscht verzweifelt nach einem tieferen Grund, dieser Märtyrer, die Suche nach dem Warum wird zur Manie, und er findet es entweder bei Gott oder in sich selbst oder - mysteriös und mystisch - in der schrecklichen Vereinigung dieser beiden zu einem einzigen Zerstörer. So sehr ich auch angesichts der Vielzahl der Schicksalsschläge, die über ihn hereingebrochen sind, mit ihm sympathisiere, muss ich doch sagen, dass das nichts als dumme Hybris ist - nicht die Hybris des Wollens oder Verlangens, sondern die Hybris eines phantastischen, kindischen Gottesbegriffs. Wir haben das alles schon einmal gehört und wollen es nicht mehr hören, selbst wenn es von einem durch und durch anständigen Menschen wie Bucky Cantor kommt.
    »Und Sie, Arnie?«, fragte er. »Nicht verbittert?«
    »Als ich Kinderlähmung gekriegt habe, war ich noch ein Junge, zwölf Jahre alt, halb so alt wie Sie. Ich war fast ein Jahr im Krankenhaus, der Älteste auf der Station, rings um mich her lauter kleinere Kinder, die weinten und nach ihren Eltern schrien - Tag und Nacht haben diese kleinen Kinder vergeblich auf ein Gesicht gewartet, das sie kannten. Sie fühlten sich allesamt verlassen. Damals habe ich viel Angst und Verzweiflung erfahren. Wenn man mit Streichholzbeinen aufwächst, erlebt man jede Menge Bitterkeit. Jahrelang habe ich nachts im Bett gelegen und mit meinen Gliedern gesprochen. >Bewegt euch! Los, bewegt euch!<, habe ich geflüstert. Ich war ein Jahr nicht in der Schule, und als ich wieder zurückkehrte, kam ich in eine andere Klasse. Und in der Highschool warteten noch ein paar harte Schläge auf mich. Die meisten Mädchen bemitleideten mich, die meisten Jungen gingen mir aus dem Weg. Ich saß sozusagen immer am Spielfeldrand und brütete vor mich hin. Eine Jugend am Spielfeldrand ist schmerzhaft. Ich wollte gehen können wie alle anderen. Wenn ich ihnen zusah, den Unversehrten, wie sie nach der Schule Baseball spielten, wollte ich schreien: >Ich hab auch ein Recht darauf, herumzurennen!< Ich wurde ständig gequält von dem Gedanken, dass es ganz leicht anders hätte kommen können. Eine Weile wollte ich gar
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