Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Roth, Philip

Titel: Roth, Philip
Autoren: Nemesis
Vom Netzwerk:
Marcia ein zweites Mal, mich zu besuchen. Diesmal erlaubte ich es. Wir hatten einen schrecklichen Streit. Ich wusste gar nicht, dass sie dazu imstande war - ich hatte sie noch nie so wütend gesehen. Danach ist sie nie mehr gekommen, und wir haben nie wieder Kontakt gehabt. Ihr Vater hat in Philadelphia angerufen, aber ich wollte nicht mit ihm sprechen. Als ich in der Esso-Tankstelle an der Springfield Avenue gearbeitet habe, hat er aus heiterem Himmel einmal dort getankt. Das war ein weiter Weg für ihn.«
    »War er wegen ihr gekommen? Wollte er Sie überreden, zurückzukommen?«
    »Ich weiß es nicht. Schon möglich. Ich habe einen Kollegen zur Pumpe geschickt und mich versteckt. Ich wusste, dass ich gegen Dr. Steinberg nichts hätte ausrichten können. Ich weiß nicht, was aus seiner Tochter geworden ist. Ich will es auch nicht wissen. Mögen sie und der Mann, den sie geheiratet hat, und ihre Kinder glücklich und gesund sein. Wir wollen hoffen, dass ihr gnädiger Gott sie mit all dem gesegnet hat, bevor er ihnen das Messer in den Rücken stößt.«
    Für einen wie Bucky Cantor war das ein erstaunlich strenger Satz, und für einen Augenblick schien er selbst ein wenig verwirrt.
    »Ich war ihr Freiheit schuldig, und die habe ich ihr gegeben«, sagte er schließlich. »Ich wollte Marcia nicht an mich ketten. Ich wollte ihr Leben nicht zerstören. Sie hatte sich nicht in einen Krüppel verliebt, und sie sollte nicht an einen gekettet sein.«
    »Aber hätten Sie diese Entscheidung nicht ihr überlassen sollen?«, fragte ich. »Bestimmte Frauen finden Versehrte Männer manchmal sehr attraktiv. Das weiß ich aus Erfahrung.«
    »Marcia Steinberg war eine liebenswerte, naive, wohlerzogene junge Frau mit freundlichen, verantwortungsbewussten Eltern, die sie und ihre Schwestern Höflichkeit und Zuvorkommenheit gelehrt hatten«, sagte Bucky. »Sie war eine junge Erstklasslehrerin, noch nicht trocken hinter den Ohren. Eine zarte junge Frau, noch kleiner als ich. Es hätte ihr nichts geholfen, dass sie intelligenter war als ich - sie hätte nicht gewusst, wie sie sich aus dieser misslichen Lage hätte befreien sollen. Also habe ich es getan. Ich habe getan, was getan werden musste.«
    »Sie haben oft darüber nachgedacht«, sagte ich. »Immerzu, wie es scheint.«
    Es war eines der wenigen Male bei unseren Treffen, dass er lächelte - es war ein Lächeln, das große Ähnlichkeit mit einem Stirnrunzeln hatte und eher müde als froh wirkte. Es gab in ihm keine Leichtigkeit. Sie war vollkommen verschwunden, ebenso wie die Energie und der Eifer, die ihn einst ausgemacht hatten. Und wie die athletische Kraft. Nicht nur, dass ein Arm und ein Bein nutzlos waren - auch seine ursprüngliche Persönlichkeit, diese vitale Zielstrebigkeit, die einen in dem Augenblick, da man ihn kennenlernte, geradezu ansprang, schien fort zu sein, entfernt wie die dünne Rinde, die er in jener ersten Nacht mit Marcia auf der Insel vom Stamm einer Birke abgeschält hatte. Wochenlang trafen wir uns regelmäßig zum Mittagessen, und nicht ein einziges Mal hellte sich seine Stimmung auf, nicht einmal, als er sagte: »Dieses Lied, das ihr so gefiel – I'll Be Seeing You -, das habe ich auch nie vergessen können. Es ist kindisch, es ist kitschig, aber es sieht so aus, als würde ich mich den Rest meines Lebens daran erinnern. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ich dieses Lied noch einmal hören würde.«
    »Sie würden weinen.«
    »Könnte sein.«
    »Sie hätten alles Recht dazu«, sagte ich. »Jeder, der wie Sie einer so großartigen Partnerin entsagt hätte, wäre unglücklich.«
    »Ach, mein lieber Freund«, sagte er mit mehr Gefühl als je zuvor, »ich hätte nie gedacht, dass es so enden würde. Niemals.«
    »Als sie so wütend wurde, als sie Sie in Philadelphia besucht hat -«
    »Ich habe sie danach nie wiedergesehen.«
    »Das sagten Sie, ja. Aber was ist damals passiert?«
    Er saß im Rollstuhl, erzählte er, es war ein herrlicher Samstag Mitte Oktober, noch warm genug, dass sie hinausgehen konnten - sie setzte sich auf eine Bank vor dem Sister Kenny Institute, unter den Ästen eines Baumes, dessen Blätter sich bereits verfärbten und zu Boden segelten -, aber doch so kühl, dass die Polioepidemie in den nordöstlichen Bundes-
    Staaten endlich abgeklungen war. Bucky hatte Marcia seit fast drei Monaten nicht gesehen oder mit ihr gesprochen, und so konnte sie nicht wissen, wie verkrüppelt er war. Es hatte einen Briefwechsel gegeben, nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher