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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip
Autoren: Nemesis
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Und es hat gar keinen Zweck, dagegen anzugehen.«
    Manche Leute hat man vergessen, sobald man ihnen den Rücken kehrt, aber bei Bucky und Marcia war es nicht so. Die Erinnerung an Marcia war geblieben.
    Er griff mit der unversehrten Hand in die Jackentasche, holte einen Umschlag hervor und reichte ihn mir. Die Anschrift lautete »Eugene Cantor, 17 Barclay Street, Newark«, und abgestempelt war er am 2. Juli 1944 in Stroudsburg.
    »Nur zu«, sagte er. »Ich habe ihn mitgebracht, damit Sie ihn lesen. Ich habe ihn ein paar Tage, nachdem sie ihren Job als Betreuerin angetreten hatte, bekommen.«
    Der Umschlag enthielt einen kleinen, blassgrünen Bogen Briefpapier, auf dem in sauberer, eleganter Schreibschrift stand:
    Mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann mein Mann.
    Die ganze Seite und die halbe Rückseite waren wie auf unsichtbaren geraden Linien mit diesen beiden Worten beschrieben, und darunter standen nur ihre Initiale, ein großes, wohlgeformtes M mit graziösen Auf- und Abstrichen, sowie der Zusatz: »(wie in Mein Mann)«.
    Ich steckte den Briefbogen wieder in den Umschlag und gab ihn ihm zurück.
    »Eine Zweiundzwanzigjährige schreibt an ihren ersten Geliebten. Sie müssen sich sehr gefreut haben.«
    »Ich habe ihn bekommen, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Beim Abendessen hatte ich ihn in der Tasche. Ich habe ihn mit ins Bett genommen. Ich hielt ihn in der Hand, als ich einschlief. Dann weckte mich das Telefon. Meine Großmutter schlief auf der anderen Seite des Flurs. Sie war beunruhigt. >Wer kann das denn sein, um diese Uhrzeit?< Ich ging in die Küche, wo das Telefon stand. Nach der Küchenuhr war es kurz nach Mitternacht. Marcia rief von der Telefonzelle hinter Mr. Blombacks Büro an. Sie hatte schon im Bett gelegen, aber nicht einschlafen können, und so war sie wieder aufgestanden, hatte sich angezogen und war hinaus in die Dunkelheit gegangen, um mich anzurufen. Sie wollte wissen, ob ich ihren Brief erhalten hätte. Ich sagte Ja. Ich sagte, ich sei zweihundertachtzehnmal ihr Mann - darauf könne sie sich verlassen. Ich sagte, ich sei für immer ihr Mann. Und sie sagte, sie wolle ihrem Mann zum Einschlafen etwas vorsingen. Ich saß in meiner Unterwäsche am Küchentisch und schwitzte wie ein Schwein. Der Tag war wieder sehr heiß gewesen, und bis Mitternacht hatte es kaum abgekühlt. Im Haus gegenüber waren alle Lichter aus. Ich glaube, ich war der einzige in der ganzen Straße, der noch wach war.«
    »Hat sie Ihnen etwas vorgesungen?«
    »Ein Schlaflied. Ich kannte es nicht, aber es war ein Schlaflied. Sie hat ganz, ganz leise gesungen. Da war es, das Lied, am Telefon. Wahrscheinlich kannte sie es aus ihrer Kindheit.«
    »Dann hatten Sie also auch eine Schwäche für ihre sanfte Stimme.«
    »Ich war verblüfft. Verblüfft über so viel Glück. Ich war so verblüfft, dass ich ins Telefon flüsterte: >Bist du wirklich so wunderbar wie jetzt?< Ich konnte nicht glauben, dass eine solche Frau existierte. Ich war der glücklichste Mann der Welt. Ich war nicht aufzuhalten. Verstehen Sie? Bei all ihrer Liebe - was hätte mich aufhalten sollen?«
    »Und dann haben Sie sie verloren. Wie kam das? Das haben Sie mir noch gar nicht erzählt.«
    »Nein, das habe ich Ihnen noch nicht erzählt. Ich ließ nicht zu, dass Marcia mich besuchte. So kam das. Aber vielleicht habe ich Ihnen schon zuviel erzählt.« Plötzlich war ihm aus Scham über diese offenbarten Gefühle unbehaglich zumute, und er errötete. »Wie bin ich darauf gekommen? Durch diesen Brief. Ich habe den Brief gefunden. Ich hätte ihn nie suchen sollen.«
    Er stützte den Ellbogen auf den Tisch, barg das Gesicht in seiner gesunden Hand und rieb mit den Fingerspitzen über die geschlossenen Augen. Wir waren am schwierigsten Teil der Geschichte angelangt.
    »Wie ist Ihre Beziehung zu Ende gegangen?«, fragte ich.
    »Als ich nicht mehr auf der Isolierstation war, fuhr sie nach Stroudsburg, um mich zu besuchen, aber ich wollte sie nicht sehen. Sie hinterließ mir eine Nachricht, in der stand, ihre Schwester sei an einer milden, nicht lähmenden Form von Polio erkrankt und nach drei Wochen vollkommen wiederhergestellt gewesen. Das war eine Erleichterung, aber dennoch wollte ich die Beziehung zu ihrer Familie nicht wieder aufnehmen. Als ich nach Philadelphia verlegt wurde, versuchte
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