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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip
Autoren: Nemesis
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Jungen und war einer derjenigen, die Mr. Cantor am nächsten standen. Herbie und Alan waren die ersten Poliofälle in unserem Viertel; innerhalb von achtundvierzig Stunden gab es elf weitere Fälle, und obwohl keines dieser Kinder an jenem Tag auf dem Sportplatz gewesen war, sprach es sich rasch herum, dass die Krankheit von den Italienern nach Weequahic getragen worden war. Da bis dahin die meisten Poliofälle im italienischen Viertel aufgetreten waren, während es bei uns keinen einzigen gegeben hatte, glaubte man allgemein, dass die Italiener, wie sie es behauptet hatten, an jenem Nachmittag quer durch die Stadt gefahren waren, um die Kinderlähmung unter den Juden zu verbreiten - und dass ihnen das gelungen war.
     
    Bucky Cantors Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und er war bei seinen Großeltern mütterlicherseits aufgewachsen, in einem von zwölf Parteien bewohnten Mietshaus an der Barclay Street unweit der Avon Avenue in einem der ärmeren Viertel der Stadt. Sein Vater, von dem er die schlechten Augen geerbt hatte, war Buchhalter in einem großen Kaufhaus in der Innenstadt; er hatte eine Schwäche für Pferdewetten und wurde kurz nach dem Tod seiner Frau und der Geburt seines Sohnes zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er Geld unterschlagen hatte, um seine Wettschulden zu bezahlen - wie sich herausstellte, hatte er vom ersten Tag an in die Kasse gegriffen. Er saß zwei Jahre im Gefängnis und kehrte nach seiner Entlassung nie nach Newark zurück. Auf das Leben wurde der Junge, dessen Name Eugene war, also nicht von seinem Vater, sondern von seinem großen, bärenhaften, hart arbeitenden Großvater vorbereitet, in dessen Gemüsegeschäft in der Avon Avenue er samstags und nach der Schule aushalf. Als er fünf war, heiratete sein Vater wieder und versuchte mit Hilfe eines Anwalts zu erwirken, dass Eugene zu ihm und seiner neuen Frau nach Perth Amboy kam, wo er in einer Werft arbeitete. Anstatt sich ebenfalls einen Anwalt zu nehmen, fuhr der Großvater sogleich nach Perth Amboy, wo es zu einer heftigen Auseinandersetzung kam, in deren Verlauf er seinem ehemaligen Schwiegersohn angeblich androhte, ihm den Hals zu brechen, sollte er es noch einmal wagen, sich irgendwie in Eugenes Leben einzumischen. Danach hörte man nie mehr etwas von Eugenes Vater.
    Durch das Herumtragen von Gemüsekisten entwickelten sich die Muskeln in seinem Oberkörper, und weil er täglich unzählige Male zur Wohnung im zweiten Stock hinauflief, bekam er starke Beine. Das Vorbild seines unerschrockenen Großvaters lehrte ihn, sich jeder Widrigkeit zu stellen - unter anderem der Tatsache, dass er der Sohn eines Mannes war, den sein Großvater zeit seines Lebens als »sehr zwielichtigen Charakter« beschrieb. Schon als Junge wollte er stark wie sein Großvater sein und keine dicken Brillengläser tragen müssen, doch seine Augen waren so schlecht, dass er, wenn er abends zu Bett ging und die Brille absetzte, kaum imstande war, die wenigen Möbelstücke in seinem Zimmer zu erkennen. Sein Großvater, der über seine eigenen Schwächen nie lange nachgedacht hatte, sagte zu dem Jungen, als dieser mit acht Jahren zum ersten Mal eine Brille aufsetzte, jetzt könne er so gut sehen wie jeder andere. Danach gab es zu diesem Thema nichts mehr zu sagen.
    Seine Großmutter war eine gutmütige, warmherzige kleine Frau, die ideale Ergänzung zu seinem Großvater. Sie ertrug tapfer alle Mühsale, auch wenn sie jedesmal Tränen in den Augen hatte, wenn man ihre mit zwanzig Jahren im Kindbett gestorbene Tochter erwähnte. Sie wurde von allen geliebt, sowohl im Geschäft als auch zu Hause, wo sie die Hände nie in den Schoß legte und, während sie den Haushalt erledigte, mit halbem Ohr Life Can Be Beautiful und andere Seifenopern hörte, bei denen man nervös und gespannt das nächste Unglück erwartete. In den wenigen Stunden, in denen sie nicht ihrem Mann im Geschäft half, widmete sie sich mit Freuden Eugenes Wohlergehen: Sie pflegte ihn, als er Masern, Mumps und Windpocken hatte, sorgte dafür, dass seine Kleider sauber und gepflegt waren und er seine Hausaufgaben erledigte, sie unterschrieb die Zeugnisse, ging mit ihm regelmäßig zum Zahnarzt (was damals in armen Familien eine Seltenheit war), achtete darauf, dass er gesund und reichlich aß, und bezahlte die Gebühren in der Synagoge, wo er nach der Schule als Vorbereitung für seine Bar-Mizwah Hebräischunterricht erhielt. Von den drei genannten Kinderkrankheiten abgesehen, besaß der
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