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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip
Autoren: Nemesis
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Kopf, der ausschließlich aus schrägen Linien und Flächen zu bestehen schien: ausgeprägte Wangenknochen, ein wuchtiges Kinn und eine lange, gerade Nase mit markantem, kräftigem Rücken, die seinem Profil die Schärfe einer auf eine Münze geprägten Silhouette verlieh. Seine vollen Lippen hatten so klare Konturen wie die Muskeln, und seine Haut hatte das ganze Jahr über einen leichten Bronzeton. Seit seiner Jugend trug er das dunkle Haar militärisch kurz geschnitten. Dadurch fielen einem seine Ohren auf, nicht weil sie besonders groß gewesen wären und nicht unbedingt weil sie so dicht am Schädel anlagen, sondern weil sie, von der Seite betrachtet, große Ähnlichkeit mit einem Pik As oder den Flügeln an den Füßen des Götterboten Hermes hatten: Sie waren oben nicht gerundet wie bei den meisten Menschen, sondern liefen beinahe spitz zu. Bevor sein Großvater ihn Bucky getauft hatte, war er von seinen Spielkameraden Ace genannt worden - ein Spitzname, der sich nicht nur auf seine überragenden sportlichen Leistungen, sondern auch auf die ungewöhnliche Form seiner Ohren bezog.
    Durch die schrägen Flächen seines Gesichts wirkten die grauen Augen hinter den Brillengläsern - Augen, die schmal waren wie die eines Asiaten -, als lägen sie tief in den Höhlen, als wären sie gleichsam Krater in seinem Schädel. Die Stimme, die von diesem scharf geschnittenen, durch klare Linien definierten Gesicht ausging, war überraschend hoch, doch das tat der Kraft seiner Erscheinung keinen Abbruch. Es war das robuste, wie aus Eisen gegossene und auffallend kühne Gesicht eines starken jungen Mannes, auf den Verlass war.
    Eines Nachmittags Anfang Juli bogen zwei Wagen voller Italiener, fünfzehn- bis achtzehnjährige Schüler der East Side Highschool, in die kleine Straße hinter der Schule ein und parkten an ihrem Ende, dort, wo der Sportplatz war. Die East Side Highschool befand sich in einem heruntergekommenen Arbeiterviertel namens Ironbound, in dem es bis dahin die meisten Poliofälle gegeben hatte. Sobald Mr. Cantor sie sah, ließ er seinen Fanghandschuh fallen - er stand bei einem unserer improvisierten Baseballspiele am Third Base - und ging zum Sportplatzeingang, wo sich die zehn fremden Jungen aufgebaut hatten. Sein athletischer, zielstrebiger, federnder Gang mit leicht einwärts gekehrten Zehen und die Art, wie er dabei die breiten Schultern wiegte, wurden bereits von zahlreichen Jungen auf dem Sportplatz nachgeahmt. Manche Jungen bemühten sich, beim Spiel und anderswo genau dieselbe Haltung einzunehmen wie er.
    »Was wollt ihr hier?«, fragte Mr. Cantor.
    »Kinderlähmung verbreiten«, erwiderte derjenige, der mit großspurigen Bewegungen als erster ausgestiegen war. »Stimmt's?«, sagte er und stolzierte vor seinen Kumpanen auf und ab, die, wie es Mr. Cantor schien, nur darauf warteten, einen Streit anzufangen.
    »Ihr seht eher so aus, als wolltet ihr Ärger machen. Warum verschwindet ihr nicht?«
    »Nein, nein«, sagte der Italiener, »erst müssen wir ein bisschen Kinderlähmung verbreiten. Wir haben sie und ihr nicht, also sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir sie verbreiten müssen.« Er wippte die ganze Zeit auf den Absätzen vor und zurück, um zu zeigen, was für ein harter Bursche er war. Die lässig in die beiden vorderen Gürtelschlaufen seiner Hose gehakten Daumen drückten ebenso wie sein Gesicht Verachtung aus.
    »Ich habe hier die Aufsicht«, sagte Mr. Cantor und wies mit dem Daumen über seine Schulter auf uns, »und ich fordere euch auf, vom Sportplatz zu verschwinden. Ihr habt hier nichts zu suchen, und ich fordere euch höflich auf zu gehen. Also?«
    »Seit wann ist es verboten, Kinderlähmung zu verbreiten, Herr Aufseher?«
    »Pass auf, das ist nicht witzig. Kinderlähmung ist kein Witz. Und es gibt ein Gesetz gegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Ich will nicht die Polizei rufen müssen. Wie wär's, wenn ihr verschwinden würdet, bevor ich die Polizei anrufe, damit die sich um euch kümmert?«
    Der Anführer, der gut einen halben Kopf größer war als Mr. Cantor, trat einen Schritt vor und spuckte Mr. Cantor vor die Füße. Nur Zentimeter von seinen Turnschuhen entfernt war ein zähflüssiger runder Fleck.
    »Was soll das?«, fragte Mr. Cantor. Seine Stimme war noch immer ruhig, und mit seinen vor der Brust verschränkten Armen und seiner breiten, muskulösen Statur war er die Verkörperung einer Barrikade. Kein Schläger aus Ironbound würde an ihm vorbei und in die Nähe der
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