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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot
Autoren: Emily Arsenault
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Begegnung nicht unnötig in die Länge ziehen.
    Der Wagen rührte sich zunächst nicht. Ich war schon mehrere Schritte entfernt, als der Fahrer endlich aufs Gas trat und davonbrauste.
    Ein paar Minuten später hielt abermals ein Auto neben mir. Diesmal war es ein brauner Chevy Suburban, und die Fahrerin ließ mir gar keine andere Wahl, als mitzukommen.
    »Steig ein!«, befahl Mrs. Banks.
    Rose’ Mutter jagte mir stets eine Riesenangst ein; daran hatte sich seit meiner Kindheit nichts geändert. Gewöhnlich trug sie große runde Sonnenbrillen mit dunklen Gläsern – sogar bei Regen. Bei ihrem Anblick musste ich immer an eine Fliege mit zu viel Lippenstift denken. Und wenn sie mit offenen Seitenfenstern durch die Straßen von Fox Hill kurvte, hörte man sie Joan-Baez-Songs mitsingen. Zumindest bevor Rose verschwand.
    »Was in aller Welt hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte sie, als sie den Blinker einschaltete und den Wagen wieder auf die Straße lenkte. »Wieso bist du nicht in der Schule geblieben? Du hättest doch sehen müssen, dass es gleich regnen würde!«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    Als sie sich zu mir drehte und mich ihre großen Fliegenaugen anstarrten, bekam ich ein schlechtes Gewissen. »Was? Bist du stumm?«
    »Mich hätte sowieso keiner abgeholt. Meine Mom ist nicht zu Hause.«
    Mrs. Banks’ ketchuprote Lippen wurden spitz. »Verstehe. Und du konntest natürlich nicht in der Bibliothek warten und schon mal deine Hausaufgaben machen, was?«
    Ich schwieg.
    Mrs. Banks fuhr in Mrs. Crowes Einfahrt. »Meine Rose hat mir mal erzählt, dass du eine kleine Hellseherin bist.«
    »Das war nur ein Witz«, entgegnete ich, bereute es aber sofort. Damals war Rose seit drei Jahren weg, wodurch alles, was sie je gesagt hatte oder gedacht haben mochte, als unantastbar und geheimnisvoll galt. Wer war ich, im Nachhinein zu behaupten, ich wüsste, wann sie etwas ernst gemeint hatte und wann nicht? Noch dazu vor ihrer Mutter!
    »Das muss es wohl gewesen sein«, murmelte Mrs. Banks verärgert. »Denn wenn du eine Hellseherin wärst, dann hättest du gewusst, dass es so schütten würde.«
    Drinnen zog ich die Stiefel und die neuen Socken aus und sah, dass sich die Strumpfhose darunter verfärbt hatte. Die Strumpfhose war hinüber, ebenso wie die Stiefel, die vollkommen durchweicht waren. Aber das kümmerte mich nicht, denn ich wollte sie sowieso nie wieder anziehen. Ich setzte mich im Schneidersitz auf mein Bett und weinte mindestens eine Stunde lang, wobei ich meine klammen Füße umfasste und mich bemühte, nur leise zu schluchzen. Mrs. Crowe sollte mich unten nicht hören, sonst würde sie später meine Mutter fragen. Die Tränen galten weder der Strumpfhose noch den Stiefeln oder der Geometriehausaufgabe, die ich nach wie vor nicht verstand, sondern ich weinte wegen der vier Highschool-Jahre, die mir bevorstanden. Bis heute erstaunt es mich, wie bitterlich ich an jenem Tag weinte, denn ich war doch damals noch viel zu jung und fantasielos, um auch nur zu ahnen, wie schrecklich diese Jahre werden sollten.
    Jetzt, auf dem Parkplatz des Supermarkts, drehte ich den Zündschlüssel. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen.
    Das Hemsworth-Haus war eine gelb gestrichene, auf einer kleinen Anhöhe gelegene Ranch unten am Fox Hill. Das Haus war etwas unglücklich zwischen zwei ältere, klassischere Farmhäuser gesetzt worden. Ich bog in die Einfahrt und parkte hinter einem schmutzigen silbernen Saturn.
    Es regnete immer noch. Ein oder zwei Minuten lang blieb ich im Wagen sitzen, dann fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, Wein zu kaufen. Allmählich vertrieb der schwere Lilienduft das mulmige Gefühl, das mich auf dem Parkplatz desEinkaufszentrums überfallen hatte. Ich glaubte zu sehen, dass sich an einem der Fenster eine Gardine bewegte, rührte mich aber nicht.
    Mir gefiel dieses Haus nicht mehr besonders. Komisch, denn als Kind war ich ganz neidisch darauf gewesen – auf die Teppichböden, die Kellerbar, den Siebzigerjahreschick und all die Extras. Früher war es mir so viel cooler vorgekommen als das alte Zweifamilienhaus weiter oben am Hügel, in dem ich wohnte. Aber sicher würde ich auch unser altes Haus inzwischen mit anderen Augen betrachten.
    Fürs Erste schloss ich meine Augen und wartete darauf, dass der Regen nachließ. Ich fasste es immer noch nicht, dass Charlotte heute hier wohnte. Zwar war sie einige Jahre fort gewesen – erst auf dem College, dann hatte sie ein paar Jahre in einer Wohnung in der
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