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Das Auge des Ra

Das Auge des Ra

Titel: Das Auge des Ra
Autoren: Thomas Knip
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Talon Nummer 20

    „Das Auge des Ra“

    von
    Thomas Knip

    „Nayla, nein!“, erscholl abermals der Ruf des jungen Schwarzen. Doch das Raubtier, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte, reagierte nur mit einem bedrohlichen Knurren. Die bernsteinfarbenen Augen leuchteten in einem Feuer, das Talon nur allzu bekannt war.
    In ihnen loderte die unerfüllte Gier nach Blut, die Bereitschaft zu jagen. Und zu töten. Talon schloss die Finger fester um den Griff des langen Bajonetts. Seine Muskeln spannten sich an, während er das Wesen nicht aus dem Blick ließ. Die wenigen Fetzen hellen Stoffs konnten die eindeutig weiblichen Attribute des schlanken Körpers nicht verhüllen, doch die dunkle Haut schimmerte nur an wenigen Stellen unter dem dichten Fell durch, das ihn an das eines Löwen erinnerte.
    Der Kopf jedoch wirkte, als habe man die Züge einer Löwin in das Gesicht gemeißelt, das offensichtlich einer jungen Frau gehören musste. Denn anders als bei einer Löwin wurde der Kopf durch eine Mähne aus langen, dunkelbraunen, fast schwarzen Haaren eingerahmt, die an manchen Stellen noch mit farbigen Stoffbändern zusammen gehalten wurden.
    Über die schmalen Lippen des Wesens kamen dunkle, grollende Laute. Talon zuckte zusammen. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Fast glaubte er, aus den Lauten einen Sinn heraushören zu können. Sie entstammten jedoch keiner Sprache, die von Menschen gesprochen wurde. Es war lange her, dass er sie das letzte Mal gehört hatte. Seitdem er von den Löwen ausgestoßen worden war, waren diese Laute nicht mehr Teil seines Lebens gewesen.
    Doch sie waren verwoben mit einer anderen Sprache, die für ihn keinen Sinn ergab, auch wenn sie ihm seltsam vertraut erschien.
    Ohne Vorwarnung schoss der kleine, schlanke Körper aus dem Dickicht hervor, das ihn bis zur Hüfte verdeckt hatte, und flog auf Talon zu. An den Enden der kurzen Finger konnte er die sichelförmig gebogenen Krallen erkennen, an denen dunkles, lange getrocknetes Blut klebte. Unter der Haut der dünnen Arme, die tatsächlich an die einer jungen Frau erinnerten, war das kräftige Spiel der Muskeln deutlich zu sehen.
    Talon war sich unschlüssig, wie er reagieren sollte. Mit einer fließenden Bewegung tauchte er unter dem Wesen weg und rollte sich durch das spärlich wachsende Gras.
    „Senmu!“, rief er dem jungen Mann zu, noch während er sich nach der Raubkatze umsah, deren wütendes Fauchen ob der verpassten Beute in seinem Rücken erklang. „Wenn du kannst, tu etwas!“
    Der junge Schwarze, der die letzten Augenblicke wie versteinert gewirkt hatte, stand abseits und hielt sich im Schatten eines hoch gewachsenen Baumes, der von Efeu umrankt wurde. Nur langsam erwachte er aus seiner Starre. Er sah zu, wie sich Talon und das Wesen, das seine Schwester sein mochte, beide mitten in der Bewegung drehten, um den Gegner nicht aus dem Auge zu verlieren.
    Die lange Klinge blitzte im fahlen Sonnenlicht, das in breiten Streifen durch die Baumkronen drang, in der Hand des Weißen bedrohlich auf. Senmu hob abwehrend beide Arme an und stellte sich vor Talon.
    „Nein!“, entfuhr es hilflos seinen Lippen. „Sie dürfen ihr nichts tun! Sie kann nichts dafür! Deshalb sind wir doch geflohen!“
    Talon war nicht gewillt, dem jungen Mann zuzuhören. Er hatte von ihm erwartet, dass er seine Schwester aufhalten würde. Nicht, dass er ihm die Sicht versperrte. Seine Augen blitzten verärgert auf. Er versuchte den Schatten hinter der Silhouette des Schwarzen auszumachen, der in dem Gras kaum zu erkennen war.
    Senmu sah, wie der Weiße an seiner linken Seite vorbei wollte und bewegte sich deshalb in die Richtung, um ihn aufzuhalten. Er setzte noch einmal zu einer Erläuterung an, als ihn ein schwerer Hieb in den Nacken traf. Betäubt taumelte er zu Boden. Nur undeutlich konnte er sehen, wie über seinen Rücken hinweg ein schlanker Schatten nach vorne sprang. „Nayla, bitte …“, kam es nur müde über seine Lippen, während er gegen die aufstobenden Wellen einer Ohnmacht ankämpfte.
    Talon sah, wie der junge Mann zusammensackte und im Gras fast verschwand. Doch ihm blieb keine Zeit, sich weitere Gedanken über ihn zu machen. Einem Schemen gleich glitt das raubtierhafte Wesen durch die unauslotbare Tiefe der grünen Wand des Dschungels und jagte auf den Weißen zu.
    [Die Rache … mein!] , löste es sich grollend aus der Kehle des Tieres. Seine rechte Pranke zuckte noch im Sprung durch die Luft. Talon wich erneut aus, ohne sein
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