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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot
Autoren: Emily Arsenault
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Nähe von Fairville gelebt, solange sie für die Zeitung gearbeitet hatte –, doch nach ihrer Kündigung bei der Zeitung war sie wieder hierhergezogen und hatte sich in eine verkürzte Lehrerausbildung gestürzt. Als sie es mir damals schrieb, hatte ich es überhaupt nicht verstanden. Andererseits war ihr Umzug vor allem der Krankheit ihrer Mutter geschuldet. Bei Mrs. Hemsworth – die sich während unserer College-Jahre von Charlottes Vater scheiden ließ –, war Multiple Sklerose diagnostiziert worden, und Charlotte wollte nicht, dass sie allein lebte. Ich glaube, ursprünglich hatte der Plan so ausgesehen, dass Charlotte eine Weile bei ihr blieb und sich dann ein eigenes kleines Nest suchte, sobald sie mit dem Unterrichten begann. Doch sie war einfach geblieben. Ich wusste nicht genau, ob ihre Mutter ständige Pflege benötigte oder Charlotte bloß überfürsorglich war.
    Das Klopfen an der Autoscheibe überraschte mich nicht.Ich wartete kurz, ehe ich die Augen öffnete und zu Charlottes großer hagerer Gestalt neben der Wagentür aufsah.
    »Nora! Hi! Komm rein!«, rief sie durch das Glas. »Wieso dauert das so lange? Bist du eingeschlafen?«
    »Natürlich nicht«, sagte ich zu der Scheibe. Charlotte bedeutete mir mit einem Kopfschütteln, dass sie mich nicht hören konnte. »Ich ... denke nur nach.«
    In der Hand trug sie einen schwarzen Regenschirm, den sie jedoch in einem so merkwürdigen Winkel hielt, dass ihre rechte Seite nass wurde und ihr Gesicht schon von Tropfen glänzte. Ihre schöne dunkelrote Lockenmähne hatte sie sich hinter die Ohren gestrichen. Was mich erstaunte, waren die tiefen Falten um ihren Mund. Ich hatte ganz vergessen, wie viel sie geraucht hatte, als wir uns das letzte Mal sahen; damals hatte sie praktisch ununterbrochen eine Zigarette in der Hand gehabt. Doch wenn man von den Lachfalten einmal absah, hatte ihre Haut immer noch denselben makellosen Alabasterton wie in unseren Kindertagen.
    Charlotte tänzelte von einem Fuß auf den anderen.
    »Jetzt komm schon!«, rief sie. »Steig aus und lass dich umarmen! Ich werde ja ganz nass!«
    Also öffnete ich die Fahrertür und schob ihr den Lilienstrauß in die ausgestreckten Arme.
Traum und Traumdeutung
September 1990
    »Freud hat gesagt, die Träume sind der ›Königsweg ins Unterbewusstsein‹«, klärte Charlotte uns auf, die sich die Stelle in ihrem Buch markiert hatte.
    »Freud war ein Blödmann«, entgegnete Rose, griff in Charlottes Schachtel mit den Tiercrackern und nahm sich eine Handvoll heraus.
    »Wieso sagst du das?«, fragte Charlotte.
    »Das verstehst du, wenn du größer bist.«
    Ich wünschte mir, Charlotte würde nachhaken, aber das tat sie nicht.
    »Hier stehen ein paar Tipps, wie man rauskriegt, was seine Träume bedeuten«, fuhr sie fort und sah Rose an. Die nickte und steckte sich einen Keksbüffel in den Mund.
    »Als Erstes muss man die Träume aufschreiben. Ich finde, dass wir alle ein Traumtagebuch führen sollten.«
    »Wir? Alle drei?« Rose inspizierte den Nilpferd-Cracker in ihrer Hand und biss ihm dann den Kopf ab.
    »Willst du denn nicht wissen, was dir deine Träume verraten? Was sie bedeuten?«
    »Wo kommt das her?«, fragte Rose. »Wo kommt das, was sie bedeuten, her?«
    »Was soll denn deine Frage bedeuten?«
    »Ich meine, wenn du denkst, sie bedeuten irgendwas, musst du ja glauben, dass diese Bedeutung von irgendwo kommt. Und von wo soll das sein?«
    Charlotte starrte Rose mit offenem Mund an, obwohl sie weiter durch die Nase atmete. Ich konnte ihr ansehen, dass sie sich zusammennehmen musste, um nicht die Augen zu verdrehen.
    »Das ist ein Rätsel«, flüsterte ich.
    »Ist es nicht«, zischte Charlotte. »Die Botschaft kommt aus deinem Unterbewusstsein.«
    »Und was genau soll das sein? Wo befindet sich das?«
    »In deinem Gehirn.«
    Rose sah zu mir. »Du verstehst, was ich meine, stimmt’s?«
    Ich zögerte. »Egal, woher es kommt, es hilft bestimmt, wenn man die Träume aufschreibt.«
    »Und wie soll das helfen?«, fragte Rose.
    »Vielleicht«, begann ich unsicher, »kann man dann besser erkennen, woher sie kommen.«
    Charlotte nickte eifrig. »So steht es hier eigentlich auch. Je mehr man aufschreibt, desto mehr fällt einem wieder ein und desto besser kann man die Teile zusammentun und sehen, was sie einem sagen wollen.«
    Rose lächelte. »Was einem wer sagen will? Wer sind denn die, die einem was sagen wollen?«
    Charlotte drehte ihren Pferdeschwanz zu einem Dutt auf und ließ ihn wieder in ihren
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