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Roman mit Kokain (German Edition)

Roman mit Kokain (German Edition)

Titel: Roman mit Kokain (German Edition)
Autoren: M. Agejew
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Kränkungen erinnert, über die man noch sprechen und für die man sich noch einmal entschuldigen will, und zwar schnellstens, jetzt, denn der Mensch geht für immer und hinterlässt viel Schmerz, der einen noch lange quälen und im Alter vielleicht nächtelang am Einschlafen hindern wird. Wieder fiel Schnee, nun trocken und kalt, der Wind rüttelte die Laterne, die Schatten der Bäume auf dem Boulevard wedelten einträchtig wie Schweife. Sinotschka war schon lange um die Ecke gebogen, Sinotschka war schon lange nicht mehr zu sehen, aber immer wieder holte ich sie in meiner Vorstellung zurück, ließ sie erneut zur Ecke gehen, betrachtete ihren sich entfernenden Rücken, und abermals kam sie, aus irgendeinem Grund rückwärts, zu mir geflogen. Als ich mir schließlich zufällig an die Tasche schlug, klapperten darin ihre nicht gebrauchten zehn silbernen Fünfkopekenmünzen, und ich erinnerte mich an ihr Mündchen, an ihr Stimmchen, als sie gesagt hatte: «Ich habe sehr lange gesammelt, man sagt, sie bringen Glück .» Es war wie ein Peitschenhieb über mein verdorbenes Herz, eine Peitsche, die mich zwang zu rennen, Sinotschka hinterherzurennen, durch den tiefen Schnee zu rennen, in diesem Zustand erschöpfter Weinerlichkeit, als liefe man dem abfahrenden, letzten Zug hinterher: Man läuft und weiß doch, dass man ihn nicht einholen kann.
    In dieser Nacht strich ich noch lange durch die Boulevards, in dieser Nacht schwor ich mir, das ganze Leben, das ganze Leben lang Sinotschkas silberne Fünfer aufzubewahren. Sinotschka habe ich nie wiedergesehen. Moskau ist groß, es leben viele Menschen dort.
    * Kursivierung mit Asterisk im Original deutsch (so auch im Folgenden).

3
    Der führende «Kopf» unserer Klasse bestand aus Stein, Jegorow und – wie mir damals scheinen wollte – mir selbst.
    Mit Stein war ich befreundet, fühlte aber mit beständiger Unruhe, dass ich ihn hassen würde, sollte ich aufhören, mich um diese Freundschaft zu bemühen. Stein – weißblond, brauenlos, mit sich abzeichnender Glatze – war der Sohn eines jüdischen Pelzhändlers und Klassenbester. Die Lehrer riefen ihn höchst selten auf, sie hatten sich mit den Jahren davon überzeugt, dass sein Wissen tadellos war. Wenn aber der Lehrer, nach einem Blick ins Klassenbuch, «Steiiin » sagte, da verstummte die ganze Klasse auf eigentümliche Weise. Stein riss sich mit einem solchen Krach von der Bank los, als hielte ihn jemand fest, trat rasch aus der Bankreihe heraus, wobei er mit seinen dünnen und elend langen Beinen beinahe umfiel, und stellte sich – weit vom Lehrerpult – in einem so schiefen Winkel zum Boden auf, dass, hätte man von seiner Stiefelspitze an eine gerade Linie nach oben gezogen, diese an seinem schmalen und dünnen Schulterende herausgekommen wäre, an der er seine riesigen weißen Hände wie zum Gebet abgelegt hatte. Schief stehend, mit dem ganzen Gewicht auf einem Bein, während das andere (als sei es kürzer) nur mit der Stiefelspitze den Boden berührte – weibisch, plump gekrümmt, aber keineswegs lachhaft –, sprach er hastig, als würde seine Stimme von einem Überschuss an Wissen gepeitscht, während er die an ihn gerichteten Fragen mit nachlässigem Hochmut anhörte. Glänzend ratterte er seine Antwort herunter, und in Erwartung eines wohlwollenden «Setzen » bemühte er sich stets, an der Klasse vorbei durchs Fenster zu schauen, wobei er die Lippen bewegte, als kaute oder flüsterte er etwas. Hatte er sich dann auf dieselbe Weise wieder losgerissen und war über das glatte Parkett schnell an seinen Platz zurückgekehrt, setzte er sich geräuschvoll und begann sogleich, ohne jemanden anzuschauen, etwas zu schreiben oder unter seiner Bank zu kramen, bis sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf den nächsten Schüler richtete.
    Wenn in den Pausen etwas Lustiges erzählt wurde und Stein im Moment des allgemeinen Gelächters gerade in seiner Bank saß, warf er den Kopf zurück, schloss die Augen, verzog das Gesicht und brachte damit zum Ausdruck, wie das Lachen ihn quälte; gleichzeitig trommelte er schnell mit der Unterkante der Faust auf seine Bank, als versuchte er mit diesem Klopfen das ihn erstickende Lachen zu bezwingen. Das Lachen brach aber nicht aus ihm heraus: Seine Lippen waren zusammengepresst und ließen keinen Ton entweichen. Dann wartete er, bis die anderen sich beruhigt hatten, öffnete die Augen, trocknete sie mit einem Taschentuch und sagte: «Uff .»
    Er begeisterte sich, wie er uns erzählte,
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