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Roman mit Kokain (German Edition)

Roman mit Kokain (German Edition)

Titel: Roman mit Kokain (German Edition)
Autoren: M. Agejew
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für das Ballett und das «Haus » von Maria Iwanowna in der Kossoj-Gasse. Seine bevorzugte Redensart war der Ausspruch: «Europäisch muss man sein. » Diesen Ausspruch verwendete er ständig, ob passend oder nicht. «Europäisch muss man sein » , sagte er, wenn er auftauchte und auf der Uhr zeigte, dass er genau eine Minute vor Beginn des Gebets angekommen war. «Europäisch muss man sein » , sagte er und erzählte, dass er am vorigen Abend im Ballett gewesen sei und in der Bühnenloge gesessen habe. «Europäisch muss man sein » , fügte er hinzu und gab damit zu verstehen, dass er nach dem Ballett noch zu Maria Iwanowna gefahren sei. Erst später, als Jegorow begann, ihm arg einzuheizen, gewöhnte er sich diesen seinen Lieblingsausspruch ab.
    Auch Jegorow war reich. Er war der Sohn eines Kasaner Holzhändlers, äußerst gepflegt, parfümiert, den Scheitel wie einen weißen Zacken bis zum Nacken gezogen, mit klebrigen und wie poliertes Holz glänzenden, gelben Haaren, die, wenn sie durcheinandergerieten, sich in einer Platte vom Kopf ablösten. Er hätte gut ausgesehen, wenn seine Augen, wässrig und rund – die gläsernen Augen eines Vogels – , nicht immer dann einen erschrocken-erstaunten Ausdruck angenommen hätten, wenn das Gesicht ernst wurde. In den ersten Monaten nach seinem Eintritt ins Gymnasium, als Jegorow noch von einer gewissen volkstümlichen Einfachheit war und sich sogar selbst Jegoruschka nannte, hatte ihn irgendwer abkürzend in Jag umbenannt, und dieser Spitzname war ihm geblieben.
    Man hatte Jag schon als Vierzehnjährigen nach Moskau gebracht, daher wurde er auf dem Gymnasium sogleich in die vierte Klasse 7 eingestuft. Noch vor dem Unterricht morgens hatte ihn der Ordinarius zu uns geführt und ihm gleich angeboten, das Gebet zu lesen, während fünfundzwanzig gespannte Augenpaare ihn anglotzten und angestrengt nach etwas an ihm suchten, über das man spotten konnte.
    Gewöhnlich wurde das Gebet monoton und schnell gesprochen, wobei wir uns aus pflichtgemäßer Gewohnheit erhoben, eine halbe Minute dastanden und uns dann wieder in die knarrenden Bänke setzten. Jag aber las das Gebet deutlich und unnatürlich eindringlich, er bekreuzigte sich nicht wie alle anderen, so als würde er eine Fliege von der Nase verscheuchen, sondern geflissentlich, mit geschlossenen Augen, wobei er sich theatralisch verneigte, dann den Kopf wieder zurückwarf und mit trüben Augen die hoch an der Klassenwand hängende Ikone suchte. Sogleich ertönte hier und da Lachen, alle witterten eine Posse; der Verdacht verwandelte sich bald in Überzeugung und die vereinzelten Lacher verwandelten sich in schallendes Gelächter, kaum dass Jag, der das Gebet abgebrochen hatte, seinen erschrocken-erstaunten Vogelblick über uns schweifen ließ. Der Klassenlehrer erregte sich sehr und schrie Jag und uns alle an, dass, würde Ähnliches noch einmal vorkommen, er die Sache an den Schulrat weiterleiten würde. Erst nach einer Woche, als alle schon wussten, dass Jag aus einer sehr religiösen, seit jeher altgläubigen 8 Familie stammte, kam nach dem Unterricht selbiger Klassenlehrer, ein schon betagter Mann, errötet wie ein Jüngling unerwartet zu Jag, nahm ihn an der Hand, blickte zur Seite und sagte abgehackt : « Jegorow, Sie müssen mir bitte verzeihen.» Er fügte nichts weiter hinzu, zog abrupt die Hand zurück und entfernte sich gebeugt über den Gang, während er gestikulierte, als griffe er etwas von der Decke und würfe es heftig auf den Boden. Jag ging zum Fenster, stellte sich mit dem Rücken zu uns und schnäuzte sich lange.
    So war es aber nur in der ersten Zeit. In den höheren Klassen verluderte Jag – so drückte es die Schulleitung aus – und begann, häufig und viel zu trinken. Wenn er morgens in die Klasse kam, machte er absichtlich einen Umweg, ging zu der Bank, in der Stein saß, rülpste schrecklich und wedelte die Luft, als wäre sie kostbarer Zigarrenrauch, Stein unter die Nase . « Europäisch muss man sein», klärte er die Umstehenden auf. Jag lebte zwar vollkommen allein in Moskau, trotzdem mietete er in einer Stadtvilla teure Zimmer; er bekam von zu Hause anscheinend viel Geld und tauchte häufig in Frauenbegleitung und in einer Droschke auf, aber er lernte beständig und sehr gut, er galt als einer der besten Schüler, und nur wenige wussten, dass er in fast allen Fächern die Hilfe eines Repetitors in Anspruch nahm.
    Man könnte sagen, dass der Rest der Klasse an uns dreien – Stein, Jag und
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