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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Autoren: Zülfü Livaneli
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und mussten unschädlich gemacht werden. So schuf sich die Türkei ihre eigenen Gulags, und Regimegegner wurden dort nicht weniger unbarmherzig behandelt als im Ostblock.
    Meine Lebensgeschichte, die Ihnen auf diesen Seiten begegnet, ist deshalb auch die Geschichte eines ganzen Landes und einer Generation. Dabei spannt sich der Bogen von Gefängniszellen und der Angst vor Folter bis hin zu Empfängen bei Staatspräsidenten, von falschen Ausweispapieren bis hin zu Diplomatenpässen, von der Mühsal des Exils bis zu Konzerten vor Hunderttausenden, von völliger Einsamkeit bis hin zu Parlamentsarbeit und Freundschaften mit Menschen aus aller Welt.
    Mit seinen frohen und seinen trüben Tagen war es ein insgesamt glückliches Leben. Ich durfte mit Michail Gorbatschow den Anfängen von Perestroika und Glasnost beiwohnen, wurde von Elia Kazan in die Geheimnisse Marylin Monroes eingeweiht, lachte schallend mit Peter Ustinov und bekam von Arthur Miller von der McCarthy-Ära erzählt.
    Ich bin dankbar, dass mir der Verlag Klett-Cotta die Freude bereitet, dieses Buch zu meinem 65. Geburtstag auch in Deutschland herauszubringen, denn mit Ausnahme von Griechenland habe ich im Ausland nirgends so viele Freunde wie dort, und gerade in schweren Zeiten habe ich von Deutschen viel Unterstützung erfahren.
    Für mich, der ich von frühester Jugend an viel gelesen habe, ist Deutschland das Land von Goethe, Schiller, Kleist, Hesse, Böll, Grass, Remarque, Heine, Zweig, Schopenhauer, Marx, Hegel und Nietzsche. Es ist eine Hochburg der Literatur, Philosophie und Musik, und nicht zuletzt ist es auch das Land meiner lieben Freundin Claudia Roth und des großen Schauspielers Armin Müller-Stahl, der mir die Ehre erwiesen hat, auf seiner Geige Werke von mir zu spielen und mir Gemälde von sich zu schicken.
    Zugleich freut mich, dass die Leser nicht nur über mich, sondern auch über die Türkei, über die in Deutschland viel diskutiert wird, etwas mehr erfahren. Bei Gesprächen mit deutschen Intellektuellen habe ich immer wieder den Eindruck, die Türkei werde dort nicht in ihrer ganzen Vielfalt wahrgenommen, was wohl unter anderem daran liegt, dass die seit den sechziger Jahren zugezogenen »Gastarbeiter« nur einen Teil der türkischen Wirklichkeit abbilden. In der Türkei werden sie als eine eigene, nicht unbedingt repräsentative Klasse angesehen, für die der Begriff »Deutschländer« geprägt wurde.
    Dabei ist die Türkei seit jeher ein Land voller künstlerischer Kreativität. Von dem in Kleinasien wirkenden Homer übernahmen Troubadoure das Versmaß des Hexameters und begründeten damit eine jahrhundertelange Tradition; unter byzantinischem Einfluss bildete sich die osmanische Hofmusik heraus; und sowohl die persisch geprägte »Diwan«-Lyrik als auch die moderne türkische Literatur zeugen von hoher künstlerischer Ausdruckskraft.
    Zu unseren Vorvätern zählen auch die Phryger, Karier und Ionier, deren musikalisches Erbe in unserer wahren Musik fortlebt. Ich betone das mit der »wahren« Musik, denn was in Deutschland aus türkischen Lebensmittelläden herausdröhnt, hat mit unserer ursprünglichen, eher lyrischen Musik nichts zu tun.
    Das brachte ich auch zum Ausdruck, als mir im Oktober 2010 Bundespräsident Christian Wulff und seine reizende Gattin die Ehre erwiesen, mich anlässlich ihres Türkeibesuchs zu einem Mittagessen in die Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya zu laden. Die am Bosporus gelegene Residenz steht auf einem Grundstück, das den Deutschen einst von Sultan Abdülhamit II . geschenkt wurde. Auf dem angeschlossenen Soldatenfriedhof sind 900 während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich gefallene deutsche Offiziere begraben, darunter der in der Türkei als »Goltz-Pascha« bekannte General von der Goltz.
    Mit Bezug auf die Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel, »Multikulti« sei gescheitert, bat ich Wulff, er möge an einer tiefen geistigen Beziehung zwischen der Türkei und Deutschland mitwirken und türkische Intellektuelle nicht nur als »soziale Mittler« im Dienste einer gelungenen Integration ansehen.
    Das Augenmerk des Bundespräsidenten schien allerdings mehr der in Europa anwachsenden Fremden- und Islamfeindlichkeit zu gelten; eine Haltung, wie ich sie im Westen häufig beobachte. Europäische Politiker und Intellektuelle fühlen sich von Islamfeindlichkeit unangenehm berührt, weil sie diese als unvereinbar mit den westlichen Werten erachten. Damit haben sie zwar nicht unrecht,
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