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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Autoren: Zülfü Livaneli
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Sitztoiletten gewöhnen, und es machten bald Geschichten von Leuten die Runde, die bei dem Versuch, auf Sitztoiletten zu steigen, übel gestürzt waren.)
    Die Vita-Debatte erfasste mich, als wir noch in Amasya wohnten, in einem Haus direkt am Fluss Yeşilırmak. War bis dahin grundsätzlich mit Butter gekocht worden, kam nun eine Margarine mit einem fremdländischen Namen und einer modernen Aufmachung auf den Markt. Vita markierte vermutlich den Anfangspunkt des Verpackungs-, Marken- und Werbewahns, der heutzutage die Türkei beherrscht. Während junge Frauen sich sofort auf das neue Produkt stürzten, wurde Vita von der älteren Hausfrauengeneration vehement abgelehnt und als Angriff auf die jahrhundertealte Kochtradition empfunden. Ein ordentlicher Pilaw musste mit Butter zubereitet werden und Spiegeleier genauso, was sollten da diese neumodischen Sitten! Der Streit darüber wurde bei uns in Amasya genauso geführt wie in allen türkischen Haushalten. Meine Mutter war Modernisiererin, meine Großmutter Traditionalistin. Bald gab es Versuche, die Traditionalisten auszutricksen. Da kochten junge Frauen heimlich mit Vita und jubelten der Familie das Ergebnis als mit Butter zubereitete Speise unter. Bekamen sie dann von der Schwiegermutter höchstes Lob, trumpften sie mit der Wahrheit auf.
    Vita und spätere Margarinesorten gingen aus dem Kampf so lange als Sieger hervor, bis sich der Begriff der gesunden Lebensführung durchsetzte und Margarine plötzlich als Risikofaktor für Arterienverkalkung galt.
    Bei der zweiten Debatte ging es wie gesagt um Zeki Müren. Wer an eher schwülstige Sänger wie Hafız Burhan oder Münir Nurettin gewöhnt war, konnte sich mit der neuen Mode im Radio nicht recht anfreunden. Meiner Großmutter galt Zeki Müren einfach als »fade«, doch bei jungen Leuten fand er Anklang. Wie fast immer setzten sich die Jungen durch, und Zeki Müren erfreute sich jahrzehntelang größter Beliebtheit.
    Meine Großmutter nahm mich manchmal zu Konzerten oder zu öffentlichen Sendungen von Radio Ankara mit, und einmal durfte ich auch zu einem Auftritt von Zeki Müren in einem großen Kino. Wenn wir aus dem Haus gingen, nahm meine Großmutter mich immer sofort bei der Hand und ließ mich nicht mehr los, genauso wie meine Mutter. Nur von den Männern der Familie nahm mich nie einer bei der Hand.
    Zeki Müren, ein vornehm gekleideter junger Mann mit Brille, zog sich während seines Konzertes mehrfach um – ein damals in der Türkei völlig unüblicher Vorgang. Über seine sexuellen Neigungen waren wohl schon damals Gerüchte im Umlauf, denn zwischen zwei Liedern rief aus den hinteren Reihen jemand nach vorne: »Fräulein Zeki!«
    In seiner eigentümlichen Diktion gab Zeki Müren zurück: »Hier von der Bühne aus kann ich Ihr Gesicht nicht erkennen, aber ich schließe aus Ihrem Zuruf, dass Sie ein echter Gentleman sind.« Es wurde geklatscht, denn damals herrschte eben noch nicht die Aggressivität vor, die sich in der türkischen Gesellschaft seither breitgemacht hat.
    Hätte zu dem andächtig lauschenden Jungen, der ich damals war, jemand gesagt: »Hör zu, wenn du groß bist, wirst du einmal Komponist und schreibst Lieder, und dieser Zeki Müren, der da vorne auf der Bühne steht, wird diese Lieder interpretieren und eine Platte damit machen. Und er wird dich kennenlernen wollen«, dann hätte ich mich wohl erschrocken an meine Großmutter gedrückt und mich gefragt, was dieser Verrückte von mir wolle.
    Zeki Müren sollte uns tatsächlich einmal begegnen, und zwar Anfang der neunziger Jahre bei einem Empfang im Istanbuler Hilton Hotel. Da hatte er bereits meine Lieder aufgenommen und war längst nicht mehr der schlanke junge Mann von damals, sondern die korpulente, extravagante Erscheinung, als die er sich dem Gedächtnis der Türken eingeprägt hat. Er lobte mich überschwänglich, klagte, wie schwer es heutzutage sei, gute Lieder zu finden, und zog ehrende Vergleiche zu großen Komponisten, das Ganze in einer künstlichen, unwirklich vornehmen Sprache. Dann fragte er mich plötzlich, was ich denn von den kindlich jungen Sängern hielte, die nun sehr en vogue waren und vor dem Namen immer den Zusatz »Klein-« trugen, aber noch bevor ich etwas erwidern konnte, sagte er schon: »Was haben die bloß mit dem Kleinen? Wissen Sie, für mich muss alles, aber auch wirklich alles immer groß sein.« Und brach in frivoles Gelächter aus.
    Es ist ein Wesenszug von mir, oft zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin
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