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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Autoren: Zülfü Livaneli
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sagen: »Hauptsache, im Herzen ist Platz.«
    Es gab keine Hotels, also drängte man sich zusammen, und da nicht in Frage kam, in ein Lokal zu gehen, wurde stets zusammen daheim gegessen. Dennoch wurde damals mehr geredet, gelacht und gefeiert als heute.
    Ursprünglich hatte meine Familie einst Ländereien in Elazığ besessen, doch war ein Großteil davon von der Armee beschlagnahmt worden, und zwar gegen eine lächerliche Entschädigung (die letztendlich nie ausgezahlt wurde), so dass nach Verkauf des verbliebenen Grundbesitzes vom Reichtum nichts übrig geblieben war und die Beamtenfamilie mit fünf auszubildenden Kindern gerade über die Runden kam, was aber eher Grund zum Stolz war. Man war seit Generationen im Staatsdienst und hatte sich niemals Bestechung, Unterschlagung oder dergleichen zu schulden kommen lassen. Mein Großvater als osmanischer Offizier, sein Sohn als Untersuchungsrichter und seine in hohe juristische Ämter gelangten Enkel sahen den Lohn für ihre Berufsauffassung in einem zwar bescheidenen, aber aufrechten und stolzen Dasein.
    Auf dem Gymnasium sagte einmal ein Mitschüler zu mir: »Mensch, wenn ich so einen Vater hätte, was würde ich da reich werden.« Ich wusste nicht, was er damit meinte; offenbar redete er Unsinn. Mein Vater war damals Vorsitzender der zweiten Strafkammer des Kassationshofs, doch was hatte das mit Geld zu tun?
    Über Jahre hinweg wollte mein Vater nicht glauben, dass ein Richter oder auch nur ein einfacher Verkehrspolizist Bestechungsgelder annehmen könnte. »Junge, was redest du da? Ein Staatsbeamter und sich bestechen lassen? So etwas will ich nicht hören.«
    Nichts konnte ihn derart aufbringen. Sobald über den Staat geschimpft wurde, murrte er: »Ihr müsst es ja besser wissen«, wandte sich ungehalten ab, schlug die Beine übereinander und wippte nervös mit dem Fuß.
    Wenn von uns Geschwistern einer nach Hause kam und in der Schultasche einen fremden Stift hatte, setzte es ein Donnerwetter. Mit der Entschuldigung, den Stift nur aus Versehen eingesteckt zu haben, kamen wir nicht davon, sondern wurden unweigerlich bestraft.
    Nach der Ernennung meines Vaters zum Kammervorsitzenden stand ihm ein Dienstwagen zu, mit dem er abgeholt und wieder nach Hause gebracht wurde. Nie haben wir das Innere dieses Autos auch nur zu Gesicht bekommen. Kaum war mein Vater zu Hause, fuhr das Auto wieder ab, und wenn wir danach irgendwohin wollten, fuhren wir mit dem Bus und später mit dem altersschwachen Opel, den mein Vater sich irgendwann zulegte.
    In den sechziger Jahren war mein Vater als Gerichtsinspekteur viel in Anatolien unterwegs, und meine Mutter und ich gingen jeden Monatsanfang auf die Bank, um uns seine Bezüge auszahlen zu lassen. Ich war inzwischen auf der Mittelschule, doch meine Mutter nahm mich noch immer bei der Hand, nun aber nicht mehr, um mich zu beschützen, sondern weil nun sie auf meine Hilfe angewiesen war. Mit dieser jungen, hübschen, aber sehr nervösen Frau war es nämlich so weit gekommen, dass sie aus lauter Furcht zu stottern allmählich kaum mehr mit Fremden sprach. Ich weiß nicht, woher diese Furcht rührte. Von Geburt stotterte meine Mutter nicht, aber in Ankara bildete sich diese Angst bei ihr heraus.
    Vor der Bank hielt sie meine Hand noch fester und schärfte mir ein, den Namen meines Vaters und seine Kontonummer zu sagen. »Das kannst du doch selber«, entgegnete ich. »Und wenn ich stottere?« Vor lauter Aufregung begann sie dann tatsächlich zu stottern.
    Ihre Nervosität und Weltfurcht ging allmählich auch auf mich und meine Geschwister über. Sie wirkte sich zwar jeweils anders aus, hat aber doch bei der Persönlichkeit eines jeden von uns ihre Spuren hinterlassen. Wenn ich in ein Aufnahmestudio muss und mir dabei in den ersten Tagen oft die Stimme wegbleibt oder ich nachts nicht schlafen kann oder wenn ich vor einem Auftritt am liebsten davonlaufen würde, so ist das ein Erbe meiner dunkelblonden, feinsinnig lächelnden Mutter, die infolge dieser ständigen inneren Unruhe bereits mit 38 Jahren verstarb.
    Zwei Debatten wurden damals mit erstaunlicher Erregung geführt. Bei der einen ging es um eine Margarine namens »Vita«, bei der anderen um einen jungen Sänger namens Zeki Müren, dessen Stimme immer öfter im Radio zu hören war. (In späteren Jahren sollte noch der Streit über Steh- und Sitztoiletten hinzukommen. Vor allem ältere Anhänger der bis dahin in der Türkei üblichen Stehtoiletten konnten sich nur schwer an
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