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Römischer Lorbeer

Römischer Lorbeer

Titel: Römischer Lorbeer
Autoren: Steven Saylor
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du nicht auch, Meister? Es ist, als
würde man einen Weber auffordern zu erklären, wie ein
Teppich gemacht wird, indem er ihn Faden für Faden
auseinandernimmt - das gäbe ein schönes Durcheinander! Es
soll genügen, wenn ich sage, daß mir, ausgehend von dem,
was ich bereits gefolgert hatte, die Vermutung in den Sinn kam,
mein Besucher könnte Dio von Alexandria sein. Ich hatte von
deiner mißlichen Lage gehört; Gerüchten zufolge
hast du dich in Privathäusern hier auf dem Palatin
aufgehalten; und mit einem Mal kam mir der Gedanke, daß
dieser ausländische Fremde mit dem verzweifelten Gebaren Dio
sein könnte. Um diese Möglichkeit zu verfolgen, habe ich
dich geprüft. Ich habe über Philosophie, meine Zeit in
Alexandria und König Ptolemaios gesprochen. Deine jeweilige
Reaktion hat meinen Verdacht erhärtet. Das hat nichts mit
Philosophie oder Mathematik zu tun, Meister, aber ich glaube, du
willst sehen, wie mein Verstand funktioniert und wie ich die Art zu
denken, die du mich vor so langer Zeit gelehrt hast, in der Praxis
anwende.«
    Dio lächelte und
nickte. Seltsam, daß mich noch in meinem fünften
Lebensjahrzehnt das Lob eines Lehrers so erwärmen konnte, den
ich seit dreißig Jahren nicht gesehen und an den ich seit
dieser Zeit kaum gedacht hatte.
    »Und was ist mit
Trygonion?« fragte Dio.
    »Ja, wofür
hast du mich gehalten?« fragte der kleine Galloi, und seine
Augen blitzten. (Ich sage seine Augen, obwohl viele, vielleicht
sogar die meisten ihre Augen gesagt hätten, weil Eunuchen
mindestens ebensooft für Frauen gehalten werden, was ihnen zu
gefallen scheint.)
    »Ich muß
gestehen, du hast mich getäuscht, Trygonion. Ich wußte,
daß du nicht warst, was du zu sein vorgabst, aber ich habe mich geirrt.
Ich habe angenommen, du müßtest eine junge Frau mit Toga
und Hut sein, die versucht, sich als Mann
auszugeben.«
    Der Galloi warf den
Kopf in den Nacken und stieß ein kehliges Lachen aus.
»Vermutlich ein logischer Schluß für die, welche
die Welt in Kategorien von Entweder-Oder betrachten, ein Ausgleich
gewissermaßen: eine junge Frau in einer Toga für einen
alten Mann in einer Stola!«
    Ich nickte.
»Genau. Die Erwartung von Symmetrie hat mich zu einem Irrtum
verleitet.«
    »Dann hast du
mich also für eine Frau gehalten!« sagte Trygonion,
ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken und fixierte mich
mit einem tückischen Blick. »Und wer hätte diese
Frau deiner Meinung nach sein können - die Sklavin des
Philosophen, seine Tochter, seine Frau?« Er streckte den Arm
aus und strich mit seinen Fingerspitzen über Dios runzelige
Hand; der Philosoph verzog das Gesicht und lehnte sich zurück.
»Oder vielleicht eine Amazone als Leibwache?« Trygonion
lachte.
    Ich zuckte die
Schultern. »Deine Gesichtszüge und deine Stimme haben
mich verwirrt. Es gibt nicht viele Eunuchen in Rom; ich habe diese
Möglichkeit außer acht gelassen. Ich sah, daß du
es nicht gewohnt warst, eine Toga zu tragen, was man von einer Frau
erwarten könnte - aber auch von einem Ausländer. Ich habe
deinen Akzent bemerkt, aber er ist sehr schwach und nicht
ägyptisch; phrygisch würde ich vermuten, jetzt wo ich
weiß, daß du ein Galloi bist. Du sprichst Latein fast
wie ein Römer. Du mußt schon lange hier
leben.«
    »Seit zehn
Jahren. Ich kam mit fünfzehn hierher in den Tempel der
Großen Mutter nach Rom, im selben Jahr, in dem ich mich in
ihren Dienst gestellt habe.« Damit meinte er seine
Kastration. Dio verzog das Gesicht. »Der Galloi hat dich also
vor ein schwierigeres Rätsel gestellt als der
Philosoph«, sagte der kleine Priester, offenbar sehr
zufrieden mit sich selbst.
    »Das ist nur
logisch«, erwiderte Dio gereizt, »wenn man das Bemühen eines
Philosophen um Klarheit bedenkt, während die Priester der
Kybele eine Religion daraus machen, die Sinne zu
täuschen.«
    »Und doch hat
die Tochter unseres Gastgebers die Wahrheit auf den ersten Blick
erkannt«, meinte Trygonion.
    »Ein
wunderschönes Mädchen«, sagte Dio leise und hob die
Augenbrauen.
    »Eine derartige
Klarsicht bei einem Kind scheint fast übernatürlich,
meinst du nicht auch, Gordianus?« Trygonion sah mich
herausfordernd an. »Vielleicht ist deine Tochter eine
Hexe.«
    Dio warf ihm einen
finsteren Blick zu und rutschte verlegen hin und her, doch ich
beschloß, dem Galloi seinen derben Humor nachzusehen, anstatt
mich beleidigt zu fühlen. »Dianas Mutter ist in
Ägypten aufgewachsen, wo es viele Eunuchen gibt. Diana hat
Ägypten im Blut, vielleicht
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