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Römischer Lorbeer

Römischer Lorbeer

Titel: Römischer Lorbeer
Autoren: Steven Saylor
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fürs Bett und einen Mentor.
Die Städte, Geliebten und Lehrer unserer Jugend vergessen wir
nie.
    Dio war Mitglied der
Akademie. Sein Mentor war Antichos von Askalon, der einige Jahre
später Leiter der Akademie werden sollte; Dio war einer der
Meisterschüler des großen Philosophen. In meiner
Unwissenheit fragte ich Dio einmal, wo sich die Akademie
befände. Er lachte und erklärte mir, daß der Name
zwar ursprünglich von einem bestimmten Ort - einem Hain in der
Nähe Athens, in dem Platon gelehrt hatte - stammte, sich
jedoch inzwischen auf eine philosophische Schule beziehen
würde. Die Akademie überschritt die Grenzen der Sprache
(auch wenn natürlich alle bedeutenden philosophischen Werke,
einschließlich die der Akademiker, in Griechisch
verfaßt waren), bezog alle Menschen ein und gehörte doch
niemandem. Wie könnte es bei einer Institution, die sich der
Entdeckung der grundlegenden Wahrheiten verschrieben hat, auch
anders sein?   
    Wie weiß ein
Mensch, was er weiß? Wie kann er sich seiner eigenen
Wahrnehmung sicher sein, ganz zu schweigen von der Wahrnehmung
anderer? Existieren die Götter? Kann man ihre Existenz
beweisen? Wie ist ihre Gestalt und ihr Wesen, und wie können
die Menschen den göttlichen Willen erkennen? Wie können
wir wahr und falsch unterscheiden? Kann eine gerechte Tat etwas
Böses bewirken oder eine falsche Handlung zu einem guten
Ergebnis führen?     
    Für einen jungen,
kaum zwanzigjährigen Römer in einer exotischen Metropole
wie Alexandria waren das berauschende Fragen. Dio hatte sich mit
allen beschäftigt, und sein Streben nach Erkenntnis war mir
eine tiefe Inspiration. Dio war kaum zehn Jahre älter als ich,
doch er schien mir unendlich weise und weltgewandt. In seiner
Gegenwart fühlte ich mich auf dünnem Eis und enorm
geschmeichelt, wenn er sich die Zeit nahm, mir seine Ideen zu
erläutern. Auf den Stufen der Bibliothek sitzend, unter von
Sklaven gehaltenen Schirmen vor der glühenden Sonne
geschützt, erörterten wir den Unterschied zwischen Denken
und Sinneswahrnehmungen, ordneten die Sinne nach ihrer
Zuverlässigkeit und betrachteten die spezifische Art, in der
die Menschen abhängig sind von logischem Denken, Geruch,
Geschmack, Gehör, Sehvermögen und Tastsinn, um die Welt
zu verstehen.
    Dreißig Jahre
also waren seither vergangen. Natürlich hatte Dio sich verändert,
schon damals war er mir alt vorgekommen, doch jetzt war er
tatsächlich alt. Seine dunkle Mähne war silbern, sein
Bauch dick und seine Haut runzelig und faltig. Doch sein breiter
Rücken war ungebeugt. Nicht gewohnt, mit bedeckten Armen
herumzulaufen, schob er die Ärmel seiner Stola hoch und
entblößte ein Paar muskulöse Unterarme, die braun
und wettergegerbt waren wie seine Hände. Er sah genauso gesund
aus wie ich, und bei seiner Größe und Korpulenz war er
vermutlich sogar kräftiger.
    Es wäre schwer,
einen Menschen wie dich zu vergessen, hatte ich ihm erklärt.
Als er mich nun anflehte, ihm zu helfen, am Leben zu bleiben,
hätte ich beinahe gesagt, außerdem siehst du nicht
gerade aus wie ein Mensch, den man leicht umbringen
könnte.
    Statt dessen wechselte
ich nach einer längeren Pause das Thema. »Ich bin
überrascht, daß du dich nach all den Jahren an mich
erinnerst, Meister. Ich war doch nur ein unbedeutender
Schüler, und mein Aufenthalt in Alexandria war relativ kurz.
Später hörte ich, daß dein Mentor Antichos Philo
als Leiter der Akademie nachgefolgt ist; danach muß dein
Leben voller Pflichten und Termine gewesen sein: Gespräche mit
Königen führen, den Gastgeber für Diplomaten
spielen, die Großen und Mächtigen beraten. Wie seltsam,
daß du dich der Bekanntschaft eines ungebundenen jungen
Römers erinnert hast, der sich gerne auf den Stufen vor der
Bibliothek herumtrieb, den Debatten der Älteren lauschte und
es hin und wieder wagte, mit ihnen zu parlieren.«
    »Du warst schon
mehr als das«, sagte Dio. »Du sagst, du wärest ein
schlechter Sucher, wenn du nicht die Identität eines Besuchers
für mich ergründen könntest. Nun denn, was für
ein Philosoph wäre ich, wenn ich einen verwandten Geist nicht
als solchen erkennen und im Gedächtnis behalten würde,
wenn ich ihn einmal getroffen habe?«
    »Du schmeichelst
mir, Meister.«
    »Ganz
gewiß nicht. Ich schmeichle niemandem, nicht einmal
Königen. Nicht einmal König Ptolemaios! Was einer der
Gründe ist, warum ich mich in dieser schrecklichen Lage
befinde.« Er lächelte matt, doch in seinen Augen
erkannte ich
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