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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock
Autoren: T.C. Boyle
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zu?«
    »Ja«, sagte sie, und ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, »ja, das glaube ich«, und Newton Baker erhob sich bereits, um Einspruch zu erheben, eine Vertagung zu beantragen oder ins Freie zu rennen, um auf den Flaggenmast zu klettern und den Himmel anzuheulen, aber sie war gar nicht wirklich anwesend, nicht mehr. Der Ausdruck, den Lawler benutzt hatte – vielmehr der Ausdruck, den Newt nur benutzt hatte, um etwas zu beweisen –, schlug jetzt auf sie zurück, tauchte vor ihr auf wie eine alles verschlingende Woge, hoffnungslos verrückt, hoffnungslos verrückt , bis sie fühlte, wie sie nachgab, und auf einmal war sie nicht mehr im Gerichtssaal, starrte nicht mehr dieses keckernde kleine Nagetier von Juristen in seinem Juristenanzug und seinen blanken Anwaltsschuhen an... nein, sie war in Boston, dreiundzwanzig Jahre zuvor, und es war der Morgen des Tages, an dem Stanley für immer und ewig aus ihrer Welt entschwand.
    Die Nacht war vergangen, ein dichtes Gewebe des Vertrauten und Gewohnten, Stanley lag quer über das Bett im Gästezimmer gestreckt wie ein Leichnam, während Katherine wachgelegen und in die Dunkelheit ihres eigenen Zimmers am Ende des Korridors gestarrt hatte. Der Duft von gebratenem Speck rief sie zum Frühstück, und sie fühlte sich ebenso ausgehöhlt und erschöpft, als hätte sie hundert Nächte hintereinander durchwacht: der Deutschlehrer war ohne Schaden davongekommen, aber wer würde der nächste sein und wie sollte das enden? Stanley war bereits aufgestanden und angezogen, er saß am Tisch im Speisezimmer, die Zeitung sauber gefaltet neben dem Gedeck, eine Pyramide aus Würstchen, Speck, Eiern und gebratenen Tomaten vor sich auf dem Teller aufgetürmt. Er wirkte frisch , nicht zu fassen – frisch und munter in einem neuen Hemd, Kragen und Manschetten blütenweiß, das Gesicht eben rasiert, das braune Haar noch feucht und sorgsam von dem messerscharfen schnurgeraden Scheitel weggekämmt. »Guten Morgen, Stanley«, murmelte sie, doch er sah nur kurz auf, runzelte die Stirn und wandte sich wieder der Zeitung zu.
    Josephine war noch nicht da, und Katherine nahm ihrem Mann gegenüber Platz und läutete nach Tee, einem getoasteten Muffin und Marmelade. Sie hatte wenig Appetit, nicht nach dem, was sie am Vorabend durchgestanden hatte, aber sie glaubte grundsätzlich an körperliche Ertüchtigung und Tatkraft und an die Energie, die dafür notwendig war, deshalb fand sie, sie sollte sich wenigstens zu ein paar Bissen zwingen. Das Mädchen kam herein, knickste kurz, steinerne Miene, die Tür schwang einmal hin und her, dann noch einmal, und schon war für ihr leibliches Wohl gesorgt. Sie bestrich wortlos ihr Muffin mit Butter, wartete darauf, daß Stanley den Anfang machte, dann griff sie nach der Marmelade, goß sich einen Klacks Sahne in den Tee und rührte unentwegt um. Ihr Herz raste. Sie mußte etwas sagen. »Sieht aus, als würde es ein schöner Tag«, sagte sie, »für Januar jedenfalls. Ich glaube, ich halte dieses trübe Wetter einfach nicht mehr aus, und heute scheint ja zur Abwechslung mal die Sonne...« Sie sprach nicht zu Ende.
    Stanley sah auf, seine Augen wirkten verschwollen, sie sprangen ihm fast aus dem Kopf, als sähe er hinter ihr eine an die Wand genagelte Leiche. »Ich – Katherine«, würgte er plötzlich hervor, »wegen dieses, äh, Deutschlehrers...«
    »Ja?«
    »Ich habe beschlossen, daß ich doch nicht Deutsch lernen will, nicht... nicht jetzt jedenfalls. Vielleicht später. Vielleicht nächsten Monat. Oder im Monat danach. Es sind – meine Zähne, weißt du, ich habe Zahnschmerzen, ich... also, es tut weh, und ich glaube, meine Laune gestern...«
    Sie wurde weich. Und sie hoffte – immer noch und törichterweise, denn wäre das nicht wunderbar, wenn es alles nur eine Art Vergiftung gewesen wäre, und hatte sie nicht erst gestern ihrer Mutter gegenüber bemerkt, daß sein Atem irgendwie schlecht roch? »Du Armer«, sagte sie. »Möchtest du, daß ich dir mal in den Mund sehe?«
    »Nein.«
    »Aber wie wäre es dann mit einem Zahnarzt? Solltest du nicht zum Zahnarzt gehen, wenn es dir so zu schaffen macht, vor allem in Anbetracht deiner Nerven und des Vorfalls, der sich hier gestern abend ereignet hat?« Und nun konnte sie sich nicht mehr bremsen. »Wirklich, Stanley, ich möchte dir keine Vorträge halten, aber du kannst nicht einfach Streit mit Leuten am Hafen anfangen, oder, oder Deutschlehrer kidnappen . Es geht langsam zu weit. Wirklich. Du brauchst
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