Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
Belang sein. Sie legte ihm die Hand auf die Brust und spürte sein Herz pochen, unter seinem Mantel, unter dem Jackett, unter dem Hemd. »Schhh, Stanley«, sagte sie, und sie spürte, wie ihr Gesicht sich in der schweren Atmosphäre und der komplexen Schwerkraft der Liebe auf seines zubewegte. »Du brauchst jetzt nichts zu sagen«, flüsterte sie, »nicht mehr. Küß mich einfach nur, Stanley. Küß mich.«

Epilog
    1947
Welt ohne Mauern

Und so starb er als Gefangener, Stanley Robert McCormick, zweiundsiebzig Jahre alt und mit Haaren so weiß wie ausgebleichte Knochen, gutaussehend, großgewachsen und verrückt bis zum Schluß. Schwester Gleason war samt ihrem stämmigen Charme gegangen, Muriel hatte ihre Besuche aufgegeben, um ihr eigenes Leben zu leben, und obwohl der neue Arzt – Dr. Russell – eine leuchtend goldgelbe Butterblume von Sekretärin hatte, obwohl in den Tiefen des Hauses seit neustem eine Person mit zwei Brüsten tätig war, die seine Diät zubereitete, und obwohl die Italienerin, Eddie O’Kanes Frau, weiterhin in der Küche arbeitete, bekam Stanley keine von ihnen jemals zu Gesicht oder konnte sie gar in die Arme nehmen, so wie seine Mutter ihn in die Arme genommen hatte, oder so wie Katherine. Katherine fuhr weiterhin fast jeden Tag zu ihm, oder jeden zweiten, denn manchmal wollte er sie nicht sehen, weigerte sich einfach, schroff und entschieden, und dann konnte ihn niemand umstimmen, obwohl sie den weiten Weg von ihrem Haus im Zentrum von Santa Barbara auf sich genommen hatte, einem Haus mit geräumigen, modernen Zimmern und einem Gymnastikraum, den sie für ihn hatte bauen lassen, wenn er sie einmal besuchen sollte, aber er besuchte sie nie.
    Auch sie konnte er nicht berühren, weil er im Yukon Territory gewesen war mit Sitka Charley und dem Malemute Kid und einem ansehnlichenHundegespann, und sie war nicht Frau genug für ihn – nein, sie war eine ältliche Dame von der schicklichsten, steifsten Sorte geworden, setzte sich immer zu ihm, las ihm aus der Zeitung vor und brachte ihn dazu, ihr jedesmal ein Küßchen auf die Wange zu geben, wenn sie kam oder ging. Irgendwann holte er sich eine Lungenentzündung, und die grellbunten Gesichter und die lebhaften, ungeformten Dinge suchten ihn von neuem heim, sie ergriffen Besitz von ihm und stimmten ein heilloses Gekreische von Stimmen in seinem Innern an, und auch die Richter waren wieder da in ihren flatternden schwarzen Roben, ohne Unterlaß. Mit einunddreißig Jahren hatte er zum erstenmal die Blockierung im Kopf verspürt, damals war er sechs Millionen Dollar schwer gewesen, und das alles wußte er, denn er war ja Rechnungsprüfer und konnte zwei Zahlenreihen so gut addieren wie jeder Mensch oder Mathematiker auf dieser Erde. Und als er starb, als er endlich in eine Welt ohneMauern, Riegel und Eisengitter entlassen wurde, da war er über vierunddreißig Millionen schwer, denn sie hatten ja nicht sein Geld eingesperrt – nur seinen Körper. Und seinen Geist.
    Katherine erbte dieses Vermögen, das gesamte, und alles übrige auch – die Immobilien in Chicago, die Gold wert waren, die Aktien und Wertpapiere, Stanleys achtfach abgestufte Unterwäsche und das Haus in Riven Rock mit den vergitterten Fenstern, den fünfunddreißig Hektar Land rings herum, der Aussicht auf die kahlen, versengten Channel Islands im Pazifik und den Pflegern, die jetzt ausgepflegt hatten. Sie verkaufte das Anwesen, um die Erbschaftssteuer zu bezahlen, und was übrigblieb, spendete sie den Institutionen und Bewegungen, die ihr am Herzen lagen – dem Massachusetts Institute of Technology, der League of Women Voters, dem Kunstmuseum von Santa Barbara und Dr. Gregory Pincus, einem alten Bekannten von Roy Hoskins, der später eine kleine gelbe Pille auf Progesteronbasis entwickelte, mit der die Frauen sich für immer von sexuellen Zwängen befreien würden. All das waren gute Taten, doch ihren Prozeß seinerzeit hatte sie verloren, auch wenn die Zeitungen es anders darstellten. Kempf mußte die Koffer packen, zumindest das hatte sie erreicht, aber die McCormicks waren immer noch da, mit ihrer Hartnäckigkeit und ihrem Starrsinn, und der Richter vergrößerte das Vormundschaftsgremium um drei schnurrbartzwirbelnde Ärzte, so daß das Gezerre ewig weiterging. Vielleicht war es ein Teilsieg gewesen, aber darin lag nur wenig Trost. Denn was sie am meisten gewollt hatte – ihren Mann –, das bekam sie niemals, nicht bis er gestorben war.
    Und dann war es zu spät.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher