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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock
Autoren: T.C. Boyle
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noch nicht einmal zehn. Und er war auch nicht wütend. Jedenfalls noch nicht. Im Gegenteil, er hatte gefeiert – hatte sich besudelt, wie sie wohl sagen würde, ordentlich einen draufgemacht, feste gefeiert, und dreimal Hoch dieses und jenes, und Hipp, hipp, hurra –, gefeiert mit Nick und Pat und Mart und mit Dr. Hamilton, ja, mit dem auch. Er hatte sein restliches Leben gefeiert, weil es gerade angeknipst worden war wie ein elektrischer Schalter und ihn mit hellem Licht überflutete, das ihm jetzt zu den Nasenlöchern und zu den Ohren, zum Mund und vermutlich auch zum Hintern herausströmte, obwohl er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, dort unten nachzusehen, aber das würde er irgendwann auch noch tun, bestimmt. Dann war er nach Hause gekommen, und da hatte sie gewartet, war im Wohnzimmer auf und ab gepirscht wie eine unermüdliche kleine Rattenfresserin, mit gesträubtem Haar, angespannt und sprungbereit.
    Er hatte sie nicht schlagen wollen – er hatte sie bis dahin nur einmal geschlagen, vielleicht zweimal –, und das Komische war, daß er gar nicht wütend war, nur... gereizt. Und müde. Zu Tode erschöpft. Dieses Gequake, das sie ausstieß, dazu das greinende Baby im hinteren Zimmer, und die Art, wie sie ihm ständig ihr Gesicht entgegenschob, als wäre es ein Volleyball, gegerbt und genäht und prall aufgepumpt – sie gönnte es ihm nicht, nicht einmal das, nach all der nervenzerfetzenden Ungewißheit, die er die letzten zwei Monate durchgestanden hatte, und als der aufgeblasene Ball ihres Gesichts wieder auf ihn zusteuerte, so etwa zum fünfzigstenmal, da knallte er ihn ohne Umschweife zurück übers Netz, gerade so als wäre er wieder in der Schule und hechtete nach einem Angriff über den harten, festgetrampelten Boden des Volleyballplatzes. Daraufhin legte sie erst richtig los, und von da an fand er keinen Frieden mehr, sie war wie ein artesischer Brunnen, es sprudelte nur so aus ihr heraus, Tränen und Blut und Wut schlugen ihm entgegen, aber während er diesem verheulten Gesicht auswich, bis er so leer und ausgelaugt war, daß er in eine Finsternis taumelte, die schwärzer war als das letzte ersterbende Blinzeln des Bewußtseins, konnte er an nichts anderes denken als an Mrs. McCormick – Katherine – und daran, was für eine Dame sie war, dabei klebte Rosaleen an ihm wie ein Fliegenfänger und schrie herum, daß die Fensterscheiben barsten und das Dach einkrachte und die ganze schlafende, betäubte Stadt in einer tiefen Erdspalte verschwand.
    Nicht lange davor, am Morgen dieses Tages, war alles anders gewesen. Er war bei Tagesanbruch aufgewacht und hatte sie neben sich liegen gesehen, die weichen Blütenblätter ihrer Lider, ihre Wimpern, ihre Lippen, die fragile Komposition ihres Gesichts, und er wollte sie küssen, wollte sich hinüberbeugen und mit dem Mund über den Flaum ihrer Wange streichen, doch er tat es nicht. Er wollte sie nicht wecken – und seinen Sohn auch nicht. Es war zu friedlich, dieses Unterwasserlicht, das verstohlene Ticken der Uhr, das erste Vogelgezwitscher, und er wollte nicht mit ihr über die McCormicks und die Besprechung reden, über seine Ängste und seine Hoffnungen – die er selbst kaum kannte. Also streifte er sein Nachthemd neben dem Bett ab und huschte nackt ins Wohnzimmer hinüber, den guten Anzug aus Donegal-Tweed über dem einen Arm und frische Unterwäsche über dem anderen, um sich dort wie ein Kleiderdieb anzuziehen. Dann verschwand er zur Tür hinaus in ein anderes Leben.
    Man schrieb das Jahr 1908, und er war gerade fünfundzwanzig geworden. Knapp eins dreiundachtzig groß, hatte er die Boxerstatur seines Vaters geerbt (der den Prototyp in den neunziger Jahren bei einer Serie von zumeist siegreichen Faustkämpfen ohne Handschuhe gut genutzt hatte) und die versonnenen meergrünen Augen seiner Mutter, mit den zwei haselnußbraunen Uhrzeigern im rechten, die unveränderlich, jedenfalls in diesem Leben, drei Uhr anzeigten. Seine Mutter hatte immer gesagt, dieses chronometrische Auge würde ihm Glück bringen – großes Glück und Reichtum –, doch als er sie genauer befragte, schon mit zehn oder elf etwas skeptisch geworden, da deutete sie nur auf den Beweis und meinte, die Stunde sei vorherbestimmt. Aber was ist mit dir? fragte er dann und ließ den Blick über die farblosen Wände der vier Zimmer schweifen, die sie mit seiner Großmutter, Onkel Billy, seinen vier Schwestern und drei Cousinen teilten, wo ist denn dein Drei-Uhr-Glück geblieben? Und
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