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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten
Autoren: Andreas Steinhöfel
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Verknallen. Okay, es gibt Forrest Gump, aber der Film hat kein glückliches Ende, und außerdem kann ich Forrest nicht besonders gut leiden, er ist so schrecklich aufdringlich und verfressen.
    Frau Dahling legte mir eine Hand auf die Schulter und lotste mich vor sich her in ihr Wohnzimmer. So doof bin ich nun auch nicht, dass ich mich in ihrer kleinen Wohnung verlaufen würde, aber ich sagte nichts. Das graue Gefühl macht ihr immer ordentlich zu schaffen, da muss man ein bisschen Rücksicht nehmen.
    »Hast du eigentlich rausgekriegt, von wem die Nudel war? Fitzke?«
    »Nee.«
    Ich erzählte ihr nicht, dass der Blödmann die gute Fundnudel einfach verschlungen hatte. Ich pflanzte mich auf das Sofa und guckte unauffällig auf den Tisch. Ein Teller mit Leberwurstschnittchen, kleinen Gurken und halbierten Tomaten stand darauf. Mein Magen rumpelte los. Frau Dahling macht die besten Müffelchen der Welt.
    »Wenn s der Fitzke nicht war«, überlegte sie, »dann war es wahrscheinlich eine von den Kessler-Gören.«
    »Nee. Kesslers sind im Urlaub. Seit gestern. Genau wie die Runge-Blawetzky s.«
    Kesslers sind schon im Fernsehen und in der Zeitung gewesen und alles. Sie sind eine Sensation, weil Frau Kessler zweimal Zwillinge bekommen hatte, und zwar innerhalb desselben Jahres - zwei Jungen im Januar, zwei Mädchen im Dezember. Zwischen die doppelten Geburtstage passen also gerade mal eben so Weihnachten und Silvester. Teure Sache, das, meint Herr Kessler immer, aber er grinst dabei ganz stolz. Doppelte Zwillinge, das musste ihm erst mal einer nachmachen. Die Zwillinge sind sechs und sieben Jahre alt. Frau Dahling hasst sie wie die Pest und nennt sie Brüllwürfel.
    Sie steckte die Salzstangen in ein Glas, das sie neben die Müffelchen auf den Tisch stellte. Sie machte den Fernseher an. Wir gucken immer erst Nachrichten, bevor es an die Spielfilme geht: die Abendschau aus Berlin, danach die Tagesschau. Frau Dahling ist in einen von den Sprechern von der Abendschau verknallt. Er hat braune Augen wie ein Teddybär, heißt Ulf Brauscher und Frau Dahling findet ihn toll. Als sie neulich mal wieder ein Schlückchen Gutes mit Mama getrunken hat, sagte sie, sie fände ihn sexy wie die Hölle.
    Heute guckte Ulf Brauscher ganz ernst mit seinen schönen braunen Augen, denn natürlich ging es in der Abendschau um Mister 2000 und das freigelassene Kind aus Lichtenberg. Die Eltern wollten keine Interviews geben, also wurden nur die Fotos von den anderen Kindern gezeigt, die inzwischen jeder Berliner aus der Zeitung und der Glotze längst auswendig kennt: zwei Jungen und zwei Mädchen, keines von ihnen älter als sieben Jahre. Alle lächeln auf den Fotos, bis auf die kleine Sophia aus Tempelhof. Kinder sehen eigentlich immer niedlich aus, selbst wenn sie hässlich sind, aber die kleine Sophia ist die Ausnahme. Das bekannte Foto von ihr ist ein wenig unscharf, aber selbst daraufsieht man, wie dicht ihre Augen beisammenstehen in ihrem total flachen Mondgesicht. Sie hat schmale Lippen, die fast so farblos wie die dünnen Augenbrauen sind, ihre blonden Haare hängen strähnig auf die Schultern und sie trägt ein zerknittertes, dunkelrosafarbenes T-Shirt, das noch dazu beferkelt ist mit einem dicken roten Fleck Erdbeersoße oder dergleichen. Wer so aussieht und herumläuft, wird gern mal auf dem Schulhof ausgelacht oder verarscht. Sophia war das zweite Entführungsopfer von Mister 2000 und sie tut mir von allen am meisten leid. Ich weiß, wie das ist, wenn man von anderen dauernd verarscht wird, weil man anders ist.
    Ulf Brauscher erklärte, dass es weiterhin keine Spur von dem Entführer gebe, und dann ging es weiter mit Politik. Neben mir machte Frau Dahling ein schnaubendes Geräusch.
    »Ich wünschte, ich hätte die Adresse von dem Kerl.«
    »Von Ulf Brauscher?« Den Namen konnte ich mir behalten, weil er regelmäßig unten im Bild eingeblendet wurde. Ansonsten ist mein Namensgedächtnis ziemlich im Eimer, und der Eimer hat zusätzlich auch noch ein Loch im Boden.
    »Nee, von dem ALDI-Kidnapper.« Frau Dahling schob sich eine halbe Tomate in den Mund. »Dem würde ich gern persönlich 'ne Einladung schicken, sich eine von den Kessler-Gören abzuholen. Für die Eltern wäre das nur halb so schlimm, weißt du. Sie hätten ja auf jeden Fall immer noch ein Kind in petto, das genauso aussieht.«
    »Was ist in petto?«
    »Übrig.«
    Das Problem mit Fremdwörtern ist, dass sie oft was ganz Einfaches bedeuten, aber manche Leute es lieber
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